Antwort auf: Enja Records

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La Banda | Mediterrane Musik mit Jazz verschmelzen? Das passiert besonders in Italien seit 25 Jahren oder so immer mal wieder. Und Matthias Winckelmann hat einige der entsprechenden Alben bei Enja herausgebracht. Die Banda Cittá Ruvo di Puglia, der Heimatstadt von Pino Minafra, ist hier gemeinsam mit ein paar Jazzmusikern zu hören, die auch eigene Stücke mitgebracht haben. Doch die 33 Holz- und Blechbläser und drei Schlagzeuger (inkl. Vincenzo Mazzone, der auch zum Italian Instabile Orchestra gehört – Frauen tun offenbar keine mit, die drei Nicolas sind allesamt Männer) sind auf der ersten CD zunächst mal allein zu hören mit acht Krachern aus Opern von Verdi, Bellini, Puccini, Rossini und zum Einstieg dem „Toreador“ aus Bizets Carmen. Es Gibt „La donna é moblie“, „Nessun dorma, „E lucevan le stelle“ usw., die Gesangsparts übernehmen Leonardo Lozuppone und Vincenzo Bucci (Flügelhorn in Es), Giuseppe Luzio (Sopran-Flügelhorn), Salvatore Barile (Tenor-Flügelhorn) und Nicola Valenzano (Bariton-Flügelhorn), geleitet wird die Banda von Michele di Puppo. Das ist Blasmuik mit dem gewissen Etwas, wie ich sie durchaus schätzen kann (was für teutonische Blasmusik überhaupt nicht gilt, die nur Nichtse hat, keine Etwasse – hab ich leider selbst erlitten).

Auf der zweiten CD gibt es dann nur vier Stücke. Zum Einstieg „Una serenata“ von und mit der Sängerin Lucilla Galeazzi, dann drei sehr lange Stücke: „Tra la folla, mora, mormora“ von Michel Godard und Jean-Louis Matinier, die neben Galeazzi und Willem Breuker (Sopransax) auch als Solisten zu  hören sind (Tuba bzw. Akkordeon). Dann folgt „Time Is an Empty Bottle of Wine“ von Breuker mit Pino Minafra (Trompete und Megaphon), Gianluigi Trovesi (Bassklarinette), Matinier, Godard und Breuker, und zum Abschluss „Sacra Romana Rota“, ein Bruno Tommaso-Arrangement auf der Grundlage von Stücken von Nino Rota, mit Minafra, Trovesi (Klarinette und Altsax), Matinier und Godard. Breuker leitet die Band in seinem Stück, sonst übernimmt Tommaso den Job. Aufgenommen wurde das Projekt am 19. Oktober bei der SWF Jazz Session an den Donaueschinger Musiktagen, Achim Hebgen hat das alles produziert, die Stücke auf der zweiten CD sind Auftragswerke der Jazzredaktion des damaligen Südwestfunks.

Im Booklet schreibt Minafra über die Schwierigkeiten der italienischen Kulturwelt (die seither noch grösser geworden sind), aber auch über die Rolle der Banda-Formationen, deren Verdienst es früher war, Musik – auch Symphonien, Opern – in die ärmsten und abgelegensten Gegenden des Landes zu tragen – in schwierigen Zeiten ohne Radio, Fernsehen oder Massenmedien. In Mittel- und Süditalien, wo es nur wenige Theater und Opernhäuser gab, verbreiteten die bande quasi die Musik des „bel canto“, die Oper, und entwickelten dabei einen ganz eigenen Sound. Eine weitere Funktion war früher, dass viele Bläser, die später in den wichtigen klassischen Orchestern spielten, ihr Handwerk zunächst in einer Banda erlernten. Die Violinen wurden durch Klarinetten ersetzt, die Stimmen durch die verschiedenen Flügelhörner. Das ist also Blasmusik ohne militärischen Hintergrund, wie es sie auch im Süden Frankreichs oder in Spanien gibt – davon kenne ich allerdings nichts. Vermutlich kann man in „Sketches of Spain“ Echos spanischer Stierkampf-Bandas hören, zumindest schreibt Achim Hebgen das in seinen Liner Notes im Booklet; in Frankreich, so sagt er, seien die Grenzen zur Militärmusik sehr fliessend. Was wir hier zu hören kriegen, ist also keine Weiterentwicklung der Musik von Militärorchestern, wie es sie rund um die Welt als Relikt des Kolonialismus noch immer gibt und wie sie oft eigenwillige Klänge entwickelt haben, ihre eigenen regionalen Musikpraktiken mit der einstigen Kolonialherrenmusik vermählt haben. Anders nochmal das Stück von Breuker, in dem dessen eigene Musik reinspielt, also Vaudeville/Circus auf anarchische Weise. (In unseren Breiten spielt man halt zumeist immer noch diese steife Militärblasmusik – versucht sie natürlich aufzulockern, aber da fehlt fast immer jeglicher Schmäh, von Humor gar nicht erst zu reden.)

Es gibt auch auf der zweiten CD keine Jazz-Rhythmusgruppe (Tommaso spielt auch keinen Kontrabass, er dirigiert nur), also auch keine Versuche, diese Musik im herkömmlichen Sinn zum „swingen“ zu bringen. Grooven kann das natürlich trotzdem, nicht zuletzt dank der Tuba von Michel Godard, die auch mal etwas rifft – dazu kommt aber immer wieder der tatsächlich symphonisch reiche Sound der Banda, auch hinter den Improvisationen, die auch als eine Art mehrsätzige Konzert-Formen daherkommen (schnell-langsam-schnell hat sich seit der Romantik herausgeschält, und so kann man das durchaus auch hier hören). Wenn die Tanzformen durchdrücken, die Pauken und Becken einsteigen, die Tubas stampfen, die Posaunen fetzen, die Klarinetten Girlanden dazu spielen, kann, grenzt das alles auch mal ans Anarchische. Ich höre das Doppel-Album nur selten, aber es ist seit kurz nach Erscheinen (1997) da und so soll es auch sein.

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