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Marty Ehrlich – Can You Hear a Motion? | Album Nummer vier, und Nummer drei im Quartett mit Stan Strickland. Dieser spielt Flöte und Tenorsax, Ehrlich Klarinette, Alt- und Sopransax – keine Verwechslungsgefahr also. Michael Formanek ist der neue Mann am Bass, am Schlagzeug sitzt wie schon bei „Pliant Plaint“ und „The Traveller’s Tale“ Bobby Previte. Aufgenommen wurde das Album am 22. und 23. September 1993 von James Farber im Skyline Studio in New York (live to two track), produziert hat Ehrlich selbst, von dem bis auf Jaki Byards „Ode to Charlie Parker“ und Ornette Colemans „Comme il faut“ auch alle Stücke stammen. Der Opener „The Black Cat“ ist nach der Mütze benannt, die Widmungsträger John Carter stets auf dem Kopf trug. Carter ist auch „Rading the River gewidmet: „My musical involvement with John, as a member of his octet, has been one of the most challenging and rewarding of my life“, schreibt Ehrlich in seinen Liner Notes. „He was passionate about his music being rich in historical continuity while sounding new in ways that are revelatory. In this current period of jazz when originality, always difficult, is rarely even attempted, John’s musical vision stands in high relief.“ Klarinette und Tenorsax – die in diesen Händen ausserordentlich gut zusammenklingen! – spielen Katze und Maus in „The Black Hat“, das wirkt wie immer bei Ehrlich sehr offen und doch irgendwie strukturiert. Dieses dichte Zusammenspiel, der Wechsel von auskomponierten und freien Passagen, der lyrische Charakter der Musik – das alles ist von den Vorgängern vertraut und funktioniert auch hier hervorragend. Was Ehrlich über Carter schreibt, scheint mir durchaus eine Art Credo zu sein, das er hier auch selbst umzusetzen versucht. Ziemlich erfolgreich, würde ich sagen. Es gibt weitere Widmungen (das hymnisch-marschierende „North Star“ für den im Januar 1993 verstorbenen Richter am Supreme Court, Thurgood Marshall, mit starkem Bass-Solo von Formanek, und „One for Robin“ für Robin Holcomb mit trägem Swing und sich umschlängelnden Saxophonlinien) und dann die zwei ebenfalls sprechenden Cover: an Ornette Coleman kommt kein Avantgarde-Saxophonist vorbei, das Stück „Comme il faut“ sei „another complexly simple or simply complex, otherwise perfect melody“, das Ehrlich zuerst zwanzig Jahre früher von Strickland gehört habe und das sie im Konzert oft als Duett spielen würden. Byards Hommage an Charlie Parker, eingespielt mit Eric Dolphy und Booker Little, lebt massgeblich vom Beitrag des Trompeters. Byard habe das Trompetensolo im Gespräch als „about the most beautiful he ever heard“ beschrieben – und Ehrlich hat Passagen aus dem Trompetensolo ins Arrangement eingearbeitet, das hier für Flöte, Klarinette und Kontrabass eingerichtet ist. Dazu kommen der jubilierende Set-Opener „The Welcome“ (hier an zweiter Stelle nach „The Black Hat“) und das leicht gespenstisch wirkende, vermutlich vollständig auskomponierte „Pictures in a Glass House“, von den zwei Saxophonen und gestrichenem Bass vorgestellt.
Marty Ehrlich – New York Child | Und weiter geht’s! Ehrlich (as, ss, cl, bcl), Strickland (ts), Michael Cain (p), Formanek (b) und Bill Stewart (d) sind dabei, als am 24. und 25. Februar 1995 das nächste Enja-Album entsteht – wieder live to two track von James Farber aufgenommen, dieses Mal im Sears Sound Studio in New York. Die Besetzung mit Strickland und Klavier vereint quasi die drei Quartettalben mit dem einen bisherigen Quintettalbum, „Side by Side„, wo allerdings das Line-Up komplett anders ist und es als zweites Horn eine Posaune gibt. Auch hier gibt es tolle Arrangements, neben viel Improvisation auch (nahezu) Auskomponiertes – in dem sich Ehrlich aber auch wiederum an der Improvisation orientiert. Das Album öffnet mit dem Titelstück, in dem Stewart einen federnden Beat spielt, der zunächst nach Latin klingt, hinter Stricklands erstem Solo dann zunehmend zum Funk wird. Die Fremdbeiträge hier stammen von Julius Hemphill („Georgia Blue“, das Feature Sextett, das Hemphill Ehrlich überliess, als er nicht mehr selbst spielen konnte – Ehrlich spielt es mit der Rhythmusgruppe in der mittleren und oberen der Bassklarinette) und der Closer „Turn Again“ von Jerome Harris, mit dem Ehrlich seit der gemeinsamen Zeit in Boston befreundet ist. Ehrlich kehrt aber auch zu eigenen alten Tunes zurück, z.B. „Generosity“ vom Debutalbum (das von noch früher, von einem Quartett mit Harris, stammt), das er mit der tollen Rhythmusgruppe hier nochmal machen wollte, nachdem es auf dem Debut im kargen Trio zu finden it. Es gibt auch hier wieder ein paar Klarinetten/Tenor-Stücke und in den Liner Notes (Bob Blumenthal) erklärt Ehrlich, wieso das mit Strickland so gut klingt: „Stan gets that subtone sound on tenor sax that fits right into what the clarinet does“. as längste Stück des Albums, „Tell Me This“, ist eins der Highlights, Formaneks Bass ist hier zentral und die Saxophone klingen, als spielten sie ein kontinuierliches Solo. „Prelude“ ist eine – sehr melodische – freie Improvisation von Ehrlich (as) und Cain. In „Untitled“ greift Ehrlich zum einzigen Mal hier zum Sopransax – zwei Saxophonlinien über einer dritten, die von Klavier und Bass kommt, und ein toller Beitrag von Strickland.
Marty Ehrlich ist unterm Strich vielleicht meine grosse Entdeckung hier, wenn auch eine mit Ankündigung (seine Musik zu erkunden war ein lange gehegter Plan). Ich höre mich hier immer wieder fest, wiederhole einzelne Stücke (das von Byard!) … und habe die letzten Wochen/Monate auch ein halbes Dutzend weitere Alben gekauft, die nicht auf Enja erschienen sind (Muse, Palmetto, New World, Omnitone, Songlines), und bin darauf gespannt, diese zu entdecken! Und auf dem (kleinen, zum Glück) Enja-Nachbereitungs-Stapel liegt auch das Album, das einen Auftritt mit Ray Anderson in Willisau dokumentiert (schon länger hier, aber lange nicht angehört).
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