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@gypsy-tail-windIch hab – ohne hier alles gelesen zu haben (…) nur ne Episode zu den Grabenkämpfen unter den Saxophonisten beizutragen: der Saxlehrer, der in den späten 90ern die Leitung der Big Band meines Gymnasiums übernahm, war wohl so um 1980 herum in Berklee (…). Als ich endlich mein Tenorsax hatte und in „Sugar“ von Stanley Turrentine mein einziges kurzes Solo, nahm er mich auch mal beiseite und meinte, ich solle doch nicht mit diesem „dreckigen“ Ton spielen (voluminös, Vibrato, Glissandi und sowas) – er überspielte dann irgendwelche Aufnahmen von Lester Young und den alten Prestige LP-Twofer von Hank Mobley für mich auf zwei 90er-Tapes, um mich zu „erziehen“ – aber das fruchtete nichts, ich war da auch direkt und er hat’s akzeptiert. Mobley kannte und liebte ich da eh schon lange, aber eben auch jemanden wie Johnny Griffin. Selbst Coleman Hawkins lehnte er rundum ab … ich weisss nicht, ob er wenigstens noch die Gnade hatte, ihn als historisch wichtigen Musiker zu betrachten, aber für das Saxophonspiel damals hatte das gefälligst keine Rolle mehr zu spielen: das hatte glatt und elegant, flüssig und mit schlankem Ton zu sein. Er spielte zwar Altsax, aber das klang so à la Mike Brecker … nun ja. (…)
Ich erinnere mich, dass man sich in den frühen 80er Jahren in gewissen Kreisen nicht mehr mit einer Grateful Dead-Platte sehen lassen konnte. Damit wäre man gesellschaftlich erledigt gewesen. Auf gar keinen Fall durfte man Gitarrensoli gut finden, die länger als 3 Takte waren! Irgendwann wurden sogar Gitarren an sich uncool und die Zukunft gehörte angeblich dem Synthesizer. Auch Haarschnitte polarisierten! Irgendwie hatte man aber auch übersehen, dass die Ramones lange Haare hatten und Television ausufernde Gitarren-Duette spielten. Ein paar Jahre später relativierte sich das aber schon wieder, kippte sogar teils ins Gegenteil und dann waren The Dead, Neil Young und andere alte Helden wieder cool.
Da hatte man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, was in gewissen Phasen nachvollziehbar, aber doch ziemlich kurzsichtig ist. Irgendwann in den 50ern galt ja auch die gegenständliche Malerei als tot. Sie galt als „überwunden“. Allein die Geste des Pinselstrichs zählte! Doch dann malte – druckte! – jemand zum Entsetzen des Kunstestablishments eine Dose Tomatensuppe. Ich glaube Robert Rauschenberg hat sogar mal eine Zeichnung von Willem de Kooning ausradiert. So schlägt das Pendel von einem Extrem ins andere.
Im Jazz scheint das wohl manchmal nicht viel anders zu sein. Wobei mich da diese Geschichtsvergessenheit und die polarisierende Abgrenzung eigentlich wundert. Was für kulturelle Schätze und was für einen Reichtum an unterschiedlichen Perspektiven und vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten blendet man damit einfach aus! Aber man ist ja selbst nicht ganz frei ganz davon. Hätte man mir vor einigen Jahren noch gesagt, dass Johnny Hodges und Ben Webster zu den allergrößten gehören, hätte ich auch nur mit dem Kopf geschüttelt. Ich glaube Duke Ellington ist in den 60ern beim Jazzfest Berlin sogar mal ausgebuht worden, weil das Publikum stattdessen Free Jazz hören wollte.
Und natürlich ist Stanley Turrentine auch toll!
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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)