Antwort auf: Umfrage: Die 20 besten Tracks von Tocotronic

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jackofh

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Sehr schön, @was macht das Dutzend voll. Liste Nr. 12 hat mit „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“ den zehnten Spitzenreiter zu bieten. Für mich DER Superhit aus der Frühphase, der damals auf keiner Party im alternativen Jugendzentrum der niedersächsischen Provinz fehlen durfte. Auch Rick McPhail hat den Song vor kurzem einmal als sein Lieblingslied der Band bezeichnet. Mit gerade einmal 1:46 Minuten Laufzeit gehört der mit Powerchords gespickte Track selbst in der Frühzeit zu den kürzeren von Tocotronic. Jan Müller nannte in seinem Podcast die Angry Samoans als Inspiration fürs Auf-den-Punkt-kommen (deren Album „Back From Samoa“ bringt es z.B. in 17:30 Minuten auf 14 Tracks). Mit fünf Nennungen ist „Wir kommen um uns zu beschweren“ auch das beliebteste Album. Insgesamt würdigt die Liste jedoch sehr stark das Gesamtwerk: Tracks von neun Alben sind nominiert, vom ersten „Digital ist besser“ bis zum aktuellen „Nie wieder Krieg“. Dazu kommt mit „Andere Ufer“ mal wieder eine B-Seite zu Ehren. Auch „Pure Vernunft darf niemals siegen“ ist wieder gut vertreten, unter anderem mit dem Titeltrack auf Platz 3. Es gibt dazu durchaus kontroverse Meinungen, gerade wegen des „La-La-Las“ im Refrain. Jens Balzer hat wie immer eine Deutung zur Hand:

Jens Balzer: Das Titelstück des Albums (…) ist ein langsam dahinschaffelnder Walzer, zu dem man sich auch an den Händen fassen und einen Ringelreigen tanzen könnte. Im Refrain wird dazu ein zum kollektiven Mitsingen verleitendes „laa-la-la-lalla-la-laa-la-la-lalla“ angestimmt, nach Art von Was wollen wir trinken von den Bots. Mit Liedern wie diesen könnte man rauschhaft erhitzten Konzertbesuchern ebenso wie politischen Kollektiven mühelos hymnische Selbstvergewisserungsmomente schenken. Doch entziehen Tocotronic gerade solchen Momenten sogleich wieder den Boden: „Pure Vernunft darf niemals siegen / Wir brauchen dringend neue Lügen / Die unsere Schönheit uns erhalten / Uns aber tief im Innern spalten“, singt Dirk von Lowtzow zwischen zwei „Laa-la-la-lalla-la“s.

Es gibt mittlerweile sogar literaturwissenschaftliche Abhandlungen zu diesem „pervertiertem Minnegesang“ (so die Band). Den Anleihen bei Foucault, Adorno oder Kant in dem Songtext spürt etwa Bernd Stiegler in einem Aufsatz des Buchs „Lyrix“ nach und schließt:

Bernd Stiegler: „Pure Vernunft darf niemals siegen“ arbeitet sich am Altbestand der Vernunftkritik assoziativ ab – und verwandelt ihn in einen Song, dessen Eingängigkeit und Leichtigkeit auch daher kommen mögen, dass die vermeintliche Provokation des Titels längst Geschichte und somit popsongfähig geworden ist. Vernunftkritik wird in Text und Musik neu gemischt – so lange, bis sie leicht wird. Wir sind so leicht, dass wir fliegen.

Die bisher höchste Platzierung spendiert Was „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“ auf dem vierten Rang. Die Band ist besonders auf das Casio-Solo in der Liedmitte des „ironisch-verspielten Folksongs“ stolz. Jeremy-Days-Sänger Dirk Darmstaedter gefiel dagegen am meisten, dass endlich mal sein Name in einem Popsong vorkommt. „Dann also eben Tocotronic“, begründete er die Wahl des Liedes für eine Coverversion in seinem Podcast 2006. (Ich habe es auf Youtube nicht finden können, daher hier nur der Bandcamp-Link.) Wirklich grün war die Band sich mit der Hamburger Schule nicht. Kristof Schreuf schrieb 1994 eine beißende Kritik in der „taz“, wo er u.a. den Jeremy Days vorwarf, als unpolitisches Majorlabel-Produkt im Fahrwasser der angesagten Hamburger Szene mitschwimmen zu wollen:

Kristof Schreuf: Die Jeremy Days [waren] lange damit beschäftigt, sich gegenseitig zu mögen und untereinander gut zu finden. Sie gaben das Role Model für jene, die die weichzeichnende Innenschau der Beschäftigung mit Zusammenhängen vorziehen. Die Gruppe hat auf einer Handvoll Alben ebensoviele herzige, mitsummbare Pop-Ditties komponiert. Die Jeremy Days sehen immer noch schnieke aus. Bis heute haben sie es vermeiden können, durch zu viele Stunden in politischer Gesäß-Geographie einen dicken Hintern zu bekommen.

Ganz fair war das natürlich nicht, fängt aber den Geist der Zeit und die Diskussionen gut ein, als Tocotronic die Bühne betraten. Noch letzte statistische Werte zu Was‘ Liste: Insgesamt elf Überschneidungen mit Adlatus bedeuten einen Bestwert in dieser Umfrage. Das Verfolgerfeld im Gesamtklassement rückt mit dieser Liste so eng zusammen wie nie zuvor: Gerade einmal drei Punkte trennen nunmehr Platz 2 und 4.

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