Antwort auf: Umfrage: Die 20 besten Tracks von Tocotronic

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jackofh

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Vielen Dank für eure Listen Mahoney und Penguincafeorchestra. Der wochenendliche Ausgehzwang lässt sie mich erst jetzt detaillierter betrachten. Bei @mahoney fällt zunächst auf, dass die ersten sechs Plätze ausschließlich von Tracks von zwei Alben, nämlich „Digital ist besser“ und „Pure Vernunft darf niemals siegen“, belegt werden. Auf Platz eins steht mit der Rohmer-Hommage „Meine Freundin und ihr Freund“ in der zehnten Liste bereits der neunte Track! Beliebtestes Album ist jedoch „Pure Vernunft“ mit fünf Nennungen, bei dem erstmals Rick McPhail als viertes Bandmitglied offiziell mit an Bord war. Nach der Mammutproduktion des „weißen Albums“ wollten Tocotronic zurückkehren zu ihren puristischen Anfangstagen und spielten das Album in gerade einmal neun Tagen live ein. Ein Ansatz, den die Band in Interviews mit dem Kino Lars von Triers verglich (konkret wurde „Dogville“ mehrmals als Referenz angeführt). Es war das letzte Album bei L‘Age d‘Or und das erste mit dem neuen Produzenten Moses Schneider – und damit der Auftakt der „Berlin-Trilogie“. Die Presse war zunächst von der „Märchenplatte“ (Dirk v. Lowtzow) nicht einhellig begeistert. Die NZZ meckerte, die Musiker seien „alles andere als Virtuosen“, das Schlagzeugspiel Arne Zanks sei „eckig und plump“, von Lowtzow würde in höheren Tonlagen oft daneben liegen und die Bassfiguren von Jan Müller nach Lehrbuch klingen. Außerdem sehe Rick McPhail „nicht nur aus wie eine Mischung aus Holzfäller und Pfarrer“, sondern er spiele auch so (was immer das bedeuten mag). Ganz hart auch das Urteil der Visions im Vier-Ohren Test:

Patrick Großmann (Visions): Wer immer Tocotronic eingeredet haben mag, ihr Heil analog zu den Beatsteaks, die damit fraglos glänzend fuhren – in Kreuzberger Hinterhof-Kellern und ohne Rettungsleine auf die Harddisc gerotzten, entschlackten Jams zu suchen: Er hat der Band einen Bärendienst erwiesen. Hüben arschtighte Rocksäue, drüben vier vor sich hin schrammelnde Ex-Studis, die die eigenen Füße begutachten – das geht, Dialektik hin oder her, bitter in die Hose. Weil es nicht für fünf Zloty groovt. Klingt wie nicht gekonnt. Langwei-ei-ei-eilt.

Ganz anders das Urteil des Publikums, das Tocotronic mit „Pure Vernunft“ die erste Top-3-Platzierung in den deutschen Charts verschaffte. Das Album hielt sich insgesamt 18 Wochen in den Charts, so lange wie kein Tocotronic-Album vorher oder nachher. Noch heute ist die Platte bei Fans sehr beliebt, bei Spotify ist der Titeltrack der zweitmeistgehörte der Band.

Ungewöhnlicher in Mahoneys Liste ist jedoch die Platzierung von „Ich habe Stimmen gehört“ auf Platz 2. Wer hier das Referenzenspiel spielt, kommt sicher schnell bei Filmklassikern an: allein schon in den ersten beiden Zeilen „Ich habe Stimmen gehört / Ich habe Dinge gesehen“. „I heard voices“ sagt die Nonne am Ende von Hitchcocks „Vertigo“ aus dem Dunklen, bevor Judy verängstigt vom Turm springt. „I’ve seen things you people wouldn’t believe“ sagt der von Rudger Hauer gespielte Replikant Roy Batty gegen Ende von „Blade Runner“ in dem berühmten „Tannhäuser Tor“-Monolog kurz vor seinem Tod. Womit sich ggf. der Kreis schließt zu den Hinweisen auf die Filmwelt, die die Band in den das Album begleitenden Interviews gab. Das „Tannhäuser Tor“ zitiert von Lowtzow übrigens später noch einmal explizit: in dem Track „Spiralen“ auf dem roten Album.

Mahoney gab zudem (erst) die zweite Stimme für „Gegen den Strich“ ab. Der Song ist durchaus ein Liebling der Band selbst: „Die Adaption des Fin-de-Siècle-Klassikers À rebours von Joris-Karl Huysmans ist gleichzeitig ein romantisches Liebeslied an eine(n) unmoralische(n) Lehrmeister(in) und eine Huldigung an Lawrence, den tollen Sänger der britischen Popgruppe Felt. Jan Müllers Basslinien sind die Schönsten seit Erfindung des Instruments, wir schwören.“ Ebenso wie Morrissey (in der Auslaufrille der UK-Single von „Bigmouth Strikes Again“) benutzt von Lowtzow das Oscar-Wilde-Zitat „talent borrows, genius steals“ direkt zu Beginn des Songs als Leitmotiv. „À rebours“ ist schließlich (mutmaßlich) das Buch, das Dorian Gray zu seinem Lebensstil inspirierte. Auch Pete Doherty ist Fan und zitierte es mit den Babyshambles. Im Video zu dem Tocotronic-Stück liegt das zerlesene Taschenbuch einsam in einer leeren Flughafenhalle herum.

Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen, die Band von Carsten Friedrichs, hat zusammen mit Andreas Dorau und Friedrich Sunlight „Gegen den Strich“ – liebevoll bis in die Mimikry des Albumartworks – gecovert. Friedrichs ist ein langjähriger Wegbegleiter aus alten Hamburger Tagen, Jan Müller gehörte zur Urbesetzung der LDGG-Vorgängerband Superpunk. Frank Spilker hat zu der Verbindung eine lustige Passage in seinem „Tocotronic Text“ untergebracht, der auch die Atmosphäre im Ur-Pudel-Club gut einfängt, in dem Spilker damals jobbte:

Frank Spilker: Vor ein Uhr nachts werden kaum nennenswert viele Leute den Laden betreten. Das ist halt so Tradition. In den beiden Städten, in denen es keine Sperrstunde gibt, geht man nicht aus, bevor andernorts die Kneipen geschlossen werden. Wenn keine privaten Freunde kommen, die gerade nicht wissen, wie sie den frühen Abend herumbekommen sollen, werden wir, das Tresenpersonal und die DJ’s, mit Sicherheit die nächsten eineinhalb Stunden für uns haben. Nur ab und zu wird einer der beiden Plattenaufleger das Gespräch unterbrechen müssen, weil das gerade abgespielte Vinyl zu Ende geht.

Heute wird wieder Punk diskutiert. Es geht darum, was Punk ist und was nicht. Wo genau die Grenze verläuft. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Gründung der Band „Superpunk“, in deren Ur-Besetzung Jan mitspielen wird, kurz bevorsteht. Abgesehen davon ist so etwas natürlich ohnehin ein wichtiger Diskussionspunkt. Genauso wichtig wie: „Was ist Kunst und was nicht?“, oder „Was ist Pop und was nicht?“, oder „Wer bin ich?“, „Was bin ich?“ und „Ist das wirklich Liebe, oder nur Lust?“ Ich halte mich weitgehend heraus, da ich mich schon nach kurzer Zeit wie ein alter Sack fühle. In der Gegend, aus der ich komme, war Punk so ungefähr um das Jahr 1983 herum nach „Nelly the Elefant“ zu Tode kommerzialisiert und, wie wir fanden, durchkonjugiert. Spätestens 1986 war aus Post-Punk Neo-Pop geworden und das Thema damit erledigt. Nur ein einziger übrig gebliebener Punk mit Nietenlederjacke und Iro-Frisur tanzte noch im Forum Enger herum und war dabei eigentlich schon eher so etwas wie ein Denkmal als wirklich eine lebendige Person. Nur die Pogues gingen noch als halbwegs authentische Folkloristen durch. Aber die jungen Leute sehen das anders. Hier in Hamburg, wo die Hafenstrasse noch stark ist, sieht man das sowieso anders. Und die Amis auch. Ich jedenfalls hätte eine Art Pop-Band wie Sonic Youth oder Nirvana niemals mit Punk in Verbindung gebracht. Das ist irgendwie so, na ja, zehn Jahre später halt. Und so gar nicht britisch. Toco-Jan jedenfalls weiß immer genau, was Punk ist und was nicht. In unserer Dreierrunde bin ich überhaupt der einzige, der in dieser Frage zu Zugeständnissen bereit ist. Da der Streit darüber die ganze Zeit von launigen, besserwisserischen Kommentaren vor allem von Carsten begleitet wird, tun die Differenzen der Stimmung keinen Abbruch. Im Gegenteil. Je mehr Bier, gerne auch Jägermeister, vergossen wird, desto mehr Spaß kommt auf.

Falls irgendwer bis hierhin gelesen haben sollte: Auch Mahoneys Liste enthält noch Premieren, nämlich „Die Sache mit der Team Dresch Platte“ sowie „Aus meiner Festung“ und „Explosion“ vom Album „Kapitulation“. Die Zeilen „Alles gehört dir / Eine Welt aus Papier“ und die Riefenstahl-Verkehrung „Alles explodiert / Kein Wille triumphiert“ aus letzterem Track wurden erneut von Dendemann gesamplet, diesmal solo in „Papierkrieg“.

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