Antwort auf: Enja Records

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Gary Thomas and Seventh Quadrant – Code Violations | Der Albumtitel vom Debut wurde inzwischen zum Bandnamen – diese zweite Album ist an vier Tagen Ende Juli 1988 im Systems Two in Brooklyn entstanden. Im hartkalten 80er-Sound, bei dem man den Bass erst mal hochdrehen muss, um ihn zu hören. „This isn’t a groove record“, sagt Thomas in Kevin Whiteheads Liner Notes, nachdem die Geschichte erzählt wurde, wie er – in gutem Einvernehmen, wie es heisst – seine kurze Zeit bei Miles Davis beendet hatte: Davis habe ihn im August 1987 gefragt, ob er schon mal drüber nachgedacht hätte, ein paar Funk-Licks zu spielen, „and I told him, that’s not the way I play“.

Die Band auf diesem zweiten Album – danach zog Thomas folgerichtig zu JMT weiter – stammt aus dem Raum Baltimore/Washington D.C.: neben dem Leader (ts, fl) sind dabei: Paul Bollenback (g, g-synth), Tim Murphy (p, keys), Anthony Cox (b) und Steve Williams (d) (er gehörte lange zur Band von Shirley Horn). Auf drei Stücken taucht der reguläre Bassist der Gruppe, Geoff Harper, auf: als zweiter Bassist auf dem Opener „Maxthink“ und „Absolute Images“, anstelle von Cox auf „Zylog“. Dennis Chambers, High-School-Freund von Thomas und öfter bei Seventh Quadrant dabei, wenn er nicht gerade mit Scofield auf Tour war, spielt auf letzterem anstelle von Williams und ist in „Traf“ im Duo mit dem Sax des Leaders zu hören. Oder im Trio, wenn man den MIDI-„Schatten“ mitrechnet, von dem dessen Sax sekundiert wird – eine Art kalte Variante des Varitone-Effekts. Bollenback und Murphy sorgen für weitere Effekte, auch der Bass von Cox wird da und dort elektrisch verdoppelt. Der ganze Sound ist dem zuträglich, das Piano klingt auch völlig ohne Effekte ziemlich hart und „elektrisch“. In manchen Stücken ziehen sich Synthesizer-Linien auf der ganzen Länge durch, sorgen in druckvollen Nummern wie dem Titeltrack für eine zusätzliche Verdichtung.

Um den Faden von oben nochmal aufzugreifen, Thomas in den Liner Notes:

„You won’t hear any funk licks on this records […]. I like the way some funk stuff sounds, and when I played with Miles I developed some appreciation or synthesizers. But I’m not into blowing pentatonic scales and big loud blues-scale things over funk grooves. I just want to play what I play – you shouldn’t be limited to a few notes or ideas.

„This isn’t a groove record. We take a standard jazz approach: everyone in the rhythm section is free to do what he wants when it comes to the solos. The shifting beats they play don’t happen in a funk groove. That’s one reason I like playing so much with Anthony Cox, who’s my favorite bass player. All the rhythmic and harmonic variations he plays make this music so much different.“

Play, play, play – das tut Thomas in der Tat, druckvoll, oft mit schneidendem Ton am Tenorsax, mit ziemlich weichem Ton an der Flöte – im Duett mit Bollenback an der akustischen Gitarre in „The Dawning Crescent“ bewegt sich das auch mal irgendwo zwischen Gypsy Jazz und Neuer Musik. Vieles lässt sich durchaus in die Jazztradition einordnen, doch die Musik sorgt immer wieder für Irritationen, überschreitet Grenzen. Whitehead: „Does Thomas’s free approach put him in a perilous position – too out for the funky cats and vice versa, and too electric for conservatives? Is that what he means by ‚Code Violations?‘ ‚Right – everything I put on there goes against the grain of what most people were expecting.“ Ein klein wenig erinnert mich Thomas vielleicht da und dort an Eddie Harris. Das hat mit dem Ton nichts zu tun, eher mit den jumpenden Linien, manchmal der Phrasierung – aber auch mit der Experimentierfreude, dem Einbezug von allerlei Sounds, mit denen eben die Konservativen verscheucht wurden.

„Pads“ stammt aus der Feder von Steve Williams, die CD enthält zwei Bonustracks aus der Feder von Paul Bollenback: noch ein Flöten/Gitarren-Duett und ein recht klassischer Jazztrack mit Flöte, Gitarre, Piano, Bass und Drums, ganz ohne Effekte. Der ganze Rest des Materials stammt von Thomas.

Die dunklen, harten, wuchtigen Sounds hier sind vielleicht der Moment, in dem Enja am dem zeitgenössischen Funk-Jazz oder auch M-Base am nahesten gekommen ist? Würde mich jedenfalls wundernehmen, die Meinung von @vorgarten zu diesem Album zu hören, das gerade in Schleife läuft, weil die CD erst vorgestern gekommen ist und ich doch direkt drüber schreiben möchte.

Das Cover (gemalt von der Künstlerin Pontella Mason aus Baltimore) nimmt eigentlich auch schon viel vorweg, was jetzt wieder trendet, von The Comet Is Coming oder Sons of Kemet zu den Black Panther-Filmen mit Chadwick Boseman … aber klar, das alles hat auch tiefe Wurzeln, nicht zuletzt natürlich bei Sun Ra, und Wakanda gibt es ja auch seit den Sechzigern. Die Kluft des Saxers auf dem Cover lässt mich allerdings auch sofort an den Kollegen Billy Harper denken.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #153: Enja Records - Entdeckungen – 11.06., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba