Antwort auf: Enja Records

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Bob Degen / Harvie Swartz – Chartreuse | Ein Pfad ins Nirgendwo in einer wolkenverhangenen Landschaft – vielleicht ist das Cover hier passender, als es sein sollte? Denn ein wenig kommt es mir vor, als ginge dieses Duo wirklich nirgendwohin, drehe sich um sich selbst. Es ist hier eher Swartz, er mal handgreiflich wird (sein Solo in Charlie Parkers „Confirmation“), sonst bleibt das alles im Ungefähren, wird für mich auch nach einem halben Dutzend Anläufen bisher nicht recht greifbar – impressionistischer Duo-Jazz mit angezogener Handbremse. Auch, wenn das Tempo mal hoch geht, wird es kaum zwingender. In der „Ode to Cologne“ lässt der Komponist seinen Bass auf einem Ton schnarren – und nach weniger als drei Minuten wird ausgeblendet – sonst könnte noch was passieren. Es gibt neben dem erwähnten Parker-Tune vier Originals von Degen, darunter auch wieder den „Sequoia Song“, zwei von Harvie Swartz, und auf der CD als Bonustrack noch ein fünftes von Degen, „Ceremonious Revival“ – auch damit ist das Album nur etwas über 40 Minuten lang. Besonders schön finde ich am Ende das Titelstück. Swartz packt hier zum wiederholten mal seinen Ein-Ton-Drone-Bass aus, Degen scheint plötzlich zu wissen, wohin er will, und da tut sich etwas auf. Ein oft zartes, feines Album voller schöner Momente, aber ohne den besonderen Zauber von „Sequoia Song“, möchte ich als momentanes Zwischenfazit sagen.

Aufgenommen wurde das Album am 15. und 16. November 1977 im Tonstudio Zuckerfabrik in Stuttgart.

Trivia 1: Wie ich grad bei Discogs sehe, nahm Degen 1980 mit Heinz Sauer für L+R das Duo-Album „Ellingtonia Revisited!“ auf (ein Ellington/Strayhorn-Programm mit einem beigegebenen Gospel) – da sind wir wieder beim anderen Faden, der auch grad passt, zumal ich das Klatt/Takase-Duo-Album gestern auch zum ersten Mal angehört habe.

Trivia 2: Okay, das Internetz und seine Untiefen … das Debut von Bob Degen gab’s 1965 auf einer Platte (beim schweizer Label Elite Special erschienen) – der einzigen – der Sängern Gloria Steward („Jazz for Dancing“, Sonorama hat das Album auf Vinyl neu aufgelegt und bietet es zum Streamen an) … interessant, und die krasse Geschichte von Hartwig Bartz kannte ich auch noch nicht (erschlug 1971 seine Frau, Wiki: „Im Januar 1971 erschlug er unter nie ganz geklärten Umständen seine Ehefrau und musste fast zwei Jahrzehnte in der geschlossenen Psychiatrie verbringen. 1989 entlassen, war er nicht mehr in der Lage einer geregelten Tätigkeit nachzugehen.“).

Aki Takase – Perdido | Deutlich verbindlicher geht es beim kurzen Album zu und her, das Enja vom Solo-Auftritt von Aki Takase beim Jazz Ost-West Festival in Nürnberg am 19. Juni 1982 zusammenstellte. „ABC“ ist der warme Opener von Takase, und Bert Nogliks Beschreibung aus den Liner Notes (1986 für die CD-Ausgabe) passt total: „There is the rhythmic drive derived from Bebop, bass figures borrowed from Boogie, Monk-ish asymmetry, abstract and clashing harmonies, percussive accents inflected with foot-stomping physicality, and on occasion, freely improvised excursions out over the border of tonality.“ Das alles steckt mehr oder weniger schon drin im ersten Stück. Im zweiten, dem Traditional „Takedano Komoriuta“, greift Takase dann erstmal ins Innere des Flügels, die ersten Minuten erinnern ein wenig an eine Koto, und nach dem exotischen Einstieg wird das fast zehnminütige Stück in der zweiten Hälfte zur – durchaus jazzigen – Ballade.

Weiter geht es dann mit dem „Down Dance“ von der Kollegin Ichiko Hashimoto, einem Fragment über einem Boogie-Riff, über das Takase in einer schroffen, etwas an Monk erinnernden Weise improvisiert, bis sie nach vier Minuten zu stampfen, auf das Klavier zu schlagen beginnt und in freie Gefilde ausbricht. „After a Year“ ist das zweite Takase-Stück, ein kleines, ja beschauliches Motiv im langsamen Tempo, aus dem Takase eine ganze Welt voller Wärme und Klangfarben öffnet (und an dem Punkt ist der Gegensatz zu Degen auf „Chartreuse“ am augenfälligsten: der bleibt die meiste Zeit auf dem schmalen Pfad vom Cover und guckt erst gegen Ende mal über den Zaun). Als Closer des gerade mal 35minütigen Albums (der Applaus wird immer wieder ausgeblendet, ich nehme an, wir hören hier nicht das Set, wie es gespielt wurde oder nicht das vollständige Set) kriegen wir dann das erwartete „Perdido“ – mit einem Monk-igen Riff eingeleitet, bevor harte Linien in der Rechten und eine kurze Walking-Passage der Linken zum Thema leiten. Klar, dass das Publikum da ins Jubeln kommt.

Das ist alles sehr dynamische, körperliche Musik. Takase findet ihren eigenen Umgang mit Time, Be- und Entschleunigungen, die umso effektiver werden, wenn sie sie mit anderen ihrer Techniken koppelt: den Bässen, den Entgleisungen oder eher: Entgleitungen aus dem Tonalen, den wuchtigen Akzenten, den verspielten Riffs und Melodiefragmenten.

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