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Das Nachhören ging dann ja doch recht fix @gipetto. Deine Liste wird zunächst einmal Stardog beruhigen, weil der „Trickser“ hier sein Entrée bei dieser Umfrage gibt (und dann gleich auf Podestplatz 3!). Ich wiederum freue mich über die Nominierung von „Die letzte Adresse“, der Perle unter den Raritäten der „Best of“ von 2006. Der Track reflektiert vermutlich Eindrücke der ersten US-Tour im Jahr 1998. Ich hätte nicht erwartet, dass noch jemand außer mir für das Demo eine Schwäche hat.
Am auffälligsten sind aber natürlich die geschlagenen acht Nennungen von „Es ist egal, aber“ inklusive des Lieblingstracks „Für immer dein Feind“, dem ich vor der Umfrage keinen Spitzenplatz zugetraut hätte. Ich habe ihn immer im Zusammenhang mit Gipettos Nr. 5 „Vier Geschichten von dir“ gehört: Beide Lieder kreisen um Freund- und Feindschaft bzw. die zwischenmenschlichen Unzulänglichkeiten des lyrischen Ichs. Wobei die „Geschichten“ zusätzlich mit einer der besten Wortschöpfungen von Lowtzows wuchern: „Zeitverfluggeschwindigkeit“. Das Album selbst wurde von der zeitgenössischen Kritik äußerst gemischt aufgenommen; viele Rezensionen attestierten der Band Stagnation. Exemplarisch vielleicht:
Stefan Merx in „Visions“: Rumpeldipumpel, Tocotronics vierte. Niedliche Wackelfotos auf dem Cover und verstörte Teenagerlyrik innendrin. Alles wie gehabt. Wieder werden Herzen schmelzen, weil Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank genau das ausdrücken, was wir auch schon immer so empfunden haben. Da wird welche Wut auch immer ganz geballt rausgeschrien, semantisch freilich immer aus der Perspektive des friedlichen Beobachters. „Ich bin auf den Hund gekommen, wie man sagt“: Vielleicht ist es diese ironisch-gekünstelte Distanz, diese aufgesetzte Natürlichkeit, die mich inzwischen nervt. Scharfe Fotos werden nicht gebraucht, eine sich überschlagende Stimme ist immer besser als eine normale, Instrumente zu beherrschen ist uncool. 1994 fand ich das alles auch gut so, weil offenbar originell. Heute kopieren Tocotronic nur noch das damals überraschend gut aufgenommene Nullkonzept. Aufguß Nummer vier langweilt mich.
Dabei hatte sich doch einiges getan, nicht nur die Mundharmonika kam erstmals zum Einsatz, sondern auch Synthesizer und (von Hans Platzgumer arrangierte) Streicher. Effektvoll eigesetzt direkt im Opener „Gehen die Leute“, der bei Gipetto auf Platz 6 landete. Die Geigen entfalten hier keine beruhigende Wirkung, sondern steigern die Nervosität und den Ärger nur noch weiter. Jens Balzer kann das aber alles wie immer etwas kunstvoller ausdrücken:
Jens Balzer: Gegenüber dem kunstvoll erschlafften Degout des Debüts und den sich immer komplexer in sich selbst verdrehenden Distinktionsspielereien der beiden folgenden Alben herrscht auf Es ist egal, aber eine erstaunlich offenkundige Gereiztheit vor, eine Wundheit und Nervosität. Die letzten Reste post-juveniler Blasiertheit mitsamt des selbst errichteten Schutzpanzers gegen die eigene Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation – einerseits leide ich ja an ihr, aber andererseits: Geht mich diese ganze unangenehme Welt da draußen überhaupt etwas an? – werden infrage gestellt. Und zugunsten eines körperlich unmittelbar durchschlagenden Unbehagens überwunden. Widerwillen, Wut, Wahnsinn, Weltschmerz und -ekel sind im Gesang von Dirk von Lowtzow so deutlich zu hören wie noch nie zuvor. Arne Zank und Jan Müller spielen so dicht, hektisch und schlechtgelaunt, wie man das bislang von ihnen kaum kannte. (…) Das ist hier nicht mehr nur ein „Ich“, das singt, sondern zugleich auch ein „Es“, das Unbewusste, Unkontrollierte, das Andere. Dirk von Lowtzow singt, spricht und schreit nicht mehr nur – zugleich singt, spricht und schreit es auch aus ihm heraus.
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