Antwort auf: Enja Records

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Ich komme noch mal hierauf zurück:

Gunther Klatt & Aki Takase Play Ballads Of Duke Ellington (1990)

Der Post von @redbeansandrice zu diesem Album hatte mich neugierig gemacht, auch der darin verlinkte Nachruf auf den Tenorsaxofonisten Günther Klatt, in dem sein ebenso unkonventionelles und individualistisches wie tief in der Tradition verwurzeltes Spiel beschreiben wurde. Also mal dieses Album als CD für ein paar Euro fünfzig bestellt.

Ein Ellington-Tribute-Album – das klingt zunächst nicht besonders originell und die Besetzung Tenorsax und Klavier könnte vielleicht auch etwas spröde sein. Klatts und Takases Interpretation dieser ollen Kamellen ist aber … tja … unkonventionell und individualistisch, so dass etwas sehr originelles daraus wird. Sie umkreisen und betasten die kompositorischen Vorlagen, drehen sie auf links, ringen damit und wringen etwas aus ihnen heraus, was tief in ihrem Unterbewusstsein verborgen schien oder lassen etwas aus dem Stück herauswuchern. Das entfernt sich auch mal etwas weit von der Vorlage und läuft für ein paar Takte scheinbar völlig aus dem Ruder, wird dann aber immer wieder eingefangen. Günther Klatt mit sehr körperlichem, manchmal schroffem, manchmal zärtlichem Spiel. Mal krächzt er, mal flüstert er, mal klingt er ruppig und grotesk und legt alles Gefühl in sein Spiel. Günther Klatt hat ebenso Ben Webster wie Free Jazz verinnerlicht und hört da offenbar auch keinen Widerspruch. redbeansandrice erwähnte in diesem Zusammenhang Archie Shepp, den ich aber leider kaum kenne.

Aki Takase am Klavier hält ordentlich dagegen, ist was ganz anderes als nur Begleiterin. Auch sehr lebhaft, aber eleganter und tänzerischer als Klatt. Oft hört es sich so an, als spielen Klatt und Takase gleichzeitig ein Solo. Sie stoßen und reiben sich aneinander, beschleunigen und verlangsamen das Tempo, erhöhen und verringern die Intensität nach einer geheimnisvollen Logik und folgen einem gemeinsamen beat, den man nicht hören aber fühlen kann. Eine Mischung aus Ringkampf und Erotik- vielleicht gehört das aber sowieso zusammen. Sehr intensiv, sehr leidenschaftlich, sehr körperlich.

Das kann wohl nur mit starken und unkaputtbaren Kompositionen als Grundlage funktionieren. Diese alten Ellington und Strayhorn-Stücke kenne ich, höre sie in meinem geistigen Ohr mit, während Klatt und Takase sie auseinandernehmen und anders wieder zusammensetzen. Diese Balladen lassen auch genug Zeit und Raum für Experimente. So baut sich nicht nur zwischen Klatt und Takase sondern auch zwischen Original und Interpretation viel Spannung auf.

Nicht leicht zu beschreiben, nicht festzuhalten, da ständig in Bewegung, schwer berechenbar und daher auch etwas sperrig. Man muss sich da auf einiges einlassen. Hat eine Weile gedauert, bis ich mich da reingehört hatte, gefällt mir aber inzwischen sehr, sehr gut.

Von der Doku über Günther Klatt habe ich vorhin etwa die erste Stunde gesehen. Ein schrulliger Künstlertyp, wie er im Buche steht. Etwas zerknittert, ständig mit Zigarette in der Hand oder im Maul, Hose mit Klebeband geflickt, haust Klatt in einer Altbauwohnung, die man je nach Perspektive als kreatives Chaos oder als besorgniserregende Verwahrlosung bezeichnen kann. Er zeigt und redet über seine Bilder und Skulpturen, irgendwo zwischen Art Brut und Naivität, und seine eigenwillig reparierte Teekanne oder spielt auf seinem geliebten kaputten Klavier oder auf dem Balkon zwischen Wäscheständern Saxofon. Dazu sieht man feinst notierte Kompositionen auf Notenpapier. Alte Weggenossen erinnern sich an den jungen, blendend aussehenden und beliebten Charismatiker und Frauenhelden, den hochbegabten, damals gefeierten Nachwuchsmusiker. Seine letzte Freundin erzählt, dass sie beide völlig ineinander verliebt waren, sie ihn aber auch manchmal wegen seiner Selbstgefälligkeit angewidert einfach stehen ließ und wegging. Aber sie kam auch immer wieder zurück. Oder er lief ihr hinterher.

Edit: Habe die Doku inzwischen zuende gesehen. Empfehlenswert.

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)