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Borderlands Trio – Rewilder (Intakt, 2 CD, 2024) | Mal schauen, ob das die nächste CDs des Jahres wird, neben Lloyd und Smith/Myers. Das am 24. Mai 2023 im Big Orange Sheep in Brooklyn aufgenommene Doppelalbum geht jedenfalls vielversprechend los. Ulrich Stock hat die Liner Notes geschrieben und berichtet darin, wie er die Musiker*innen anrief, damit sie ihm bitte erklären können, wie diese rätselhafte Musik entsteht.
Stephan Crump (Kontrabass): „das war ein halber Tag im Studio. Wir haben morgens ein, zwei Stunden gespielt, sind was essen gegangen, und haben dann nochmal gespielt. Wir haben so lang gespielt, wie das Album lang ist.“ Alles klar? Stock fragt, ob sie etwas vorbereitet hätten. Crump: „Wir sprechen nicht darüber. Wir treffen uns, justieren den Sound und spielen los.“
Natürlich hat er die Vorgänger-Alben nicht angehört vor den Sessions: „Ich wollte das nicht im Kopf haben, wollte so sehr wie möglich im Moment sein.“ Musik, die im Moment ist – eine ganz gute Definition für das Borderlands Trio, dünkt mich. Es gibt keine Vorgaben, die Strukturen entstehen ständig neu, bleiben völlig unberechenbar. Das Trio verblüfft mit der Geschwindigkeit, mit der die drei aufeinander reagieren. Stock staunt über die Kohäsion, Crump auch: „Es ist etwas Magisches mit uns dreien, sehr besonders und einzigartig. In der musikalischen Landschaft gibt es viel Ego und Kontrolle. Nicht alle können sich spirituell so öffnen, wie es dieses Ensemble kann. Die Leute sollten uns hören, ein wahres Kollektiv im Versuch der Ich-Auflösung und Verschmelzung.“ Das finde ich alles nicht sehr überraschend zu lesen – es führt dennoch weiter im Versuch, das Gehörte zu verstehen, passende Worte zu finden auch. Die Ich-Auflösung, die Verschmelzung: Das sind Aspekte, die sofort auffalen beim Eintauchen in die Musik dieses Trios.
Eric McPherson (Schlagzeug): „Ich würde sagen, unser Konzept ist die spontane Komposition. Die Improvisation und die Komposition sind miteinander verflochten. […] Es ist nicht komponiert in dem Sinne, dass es geschrieben wäre; es gibt eine kompositorische Haltung. Nein, nein […] es ist spontan. Alles ist spontan. Es ist vergleichbar mit einer Konversation.“ – Diese scheinbaren Widersprüche, auch sie sind in der Musik zu hören: Wie die drei spontane Formen entwickeln, aus kleinen Motive allmähliche Verdichtungen schaffen, sich in ständig neue Richtungen bewegen – das wirkt tatsächlich oft so, als sei es irgendwie abgesprochen, geplant, aber zugleich ist auch zu hören, wie spontan das alles stets ist.
Kris Davis (Klavier): „Es ist das erste Mal, dass ich mit einer Band ein drittes Album aufgenommen habe. […] Mit anderen Projekten mache ich eine Platte oder noch eine zweite, dann ziehe ich weiter. […] Wir hören nicht, was wir früher gemacht haben. Wir reden nicht über das, was wir gleich machen […]. Wir haben so viel miteinander gespielt, dass wir uns kennen in Bezug auf den Rhythmus, die Entstehung von Form, das Lassen von Raum und das Entwickeln von Ideen über die Zeit. Wir wissen, wie wir uns in einem bestimmten Moment zueinander verhalten können. Aber wir wollen auch, dass sich das weiterentwickelt. Das ist die Herausforderung mit dieser Gruppe, mit jeder Gruppe. Wie es weitergeht, anders weitergeht.“
Wie es weitergeht? Auf dem neuen Album mit einem Gewebe, das sich auch über die einzelnen (teils kurzen, teils sehr langen) Stücke hinaus allmählich offenbart. Rhythmen tauchen wieder auf, ähnliche Motive und Bewegungen, die sich aber immer ständig in andere Richtungen bewegen. Das ist ein Gehen, ein Schreiten, ein Rennen, ein Zaudern, ein Zögern, ein Straucheln, ein Besinnen, ein Wenden, ein Drehen, und Mitten im Sturm entdeckt man die Ruhe selbst. Manches wirkt eher fragmentarisch, hingetupft, anderes rollt mit einer düsteren Bestimmtheit, ja Unaufhaltsamkeit auf einen zu, wirkt fast bedrohlich in seiner Unbedingtheit – und bricht dann auf, wie ein stille Lichtung mitten im dunklen Wald.
Toll, dass die Reise weitergeht!
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