Antwort auf: Enja Records

#12309663  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,436

Bennie Wallace – Disorder at the Border: The Music of Coleman Hawkins | 2006 erschien bei Enja das letzte Album vom gerade mal 60jährigen Wallace – ein Mitschnitt vom Jazzfest Berlin am 6. November 2004, abgemischt von Joe Harley und Anthony Wilson, der die Arrangements der Klassiker aus dem Repertoire von Coleman Hawkins beigesteuert hatte, das hier zu hören ist. „1, 2, 3, 4“ zählt jemand ein und los geht’s mit einem Piano Intro von Donald Vega mit Danton Boller (b) und Alvin Queen (d). Dann steigen die Bläser ein: Terrell Stafford (t), Ray Anderson (tb), Brad Leali und Jesse Davis (as), Wallace (ts) und Adam Schroeder (bari) – eine ziemliche „wall of sound“. Wallace spielt ein längeres Solo im Opener, „Disorder at the Border“, gefolgt von Stafford, der brassy klingt, vielleicht ein wenig an Idrees Sulieman erinnert, der in den Fünfzigern mit Hawkins aufgenommen hat. Die Musik klingt für meine Ohren mit dem Line-Up sowieso gerade so sehr nach Tadd Dameron wie nach Hawkins, auch weil das wirklich gut ist, wie schon der Opener zeigt, in dem nach einer längeren arrangierten Passage ein langes Bass-Solo folgt, bevor das Stück mit dem Thema beschlossen wird. Es folgt „La Rosita“, ein ewiges Lieblingsstück vom Verve-Album mit Ben Webster – auch hier wird ein Teppich ausgerollt: sanfte Klaviertöne, dazu flirrende Linien von Stafford/Anderson … und dann Wallace mit dem Thema, mit einem Ton, der manchmal fast an sie Sonorität einer Klarinette im tiefen Register erinnert. Auch im Thema hat Wilson Hand angelegt – es sind diese guten Arrangements, die aus dem Programm hier so viel mehr als eine lieblose Blowing Session machen. In der Bridge übernimmt dann Andersons Posaune den Lead, sekundiert von Hawkins – ganz wie im Original mit den zwei Tenorsaxophonen – und Anderson kriegt dann das erste Solo, in dem er eine Art Update der alten Swingposaunisten liefert, sehr frei ausgelegt. Dann ist Wallace dran, klar … aber im Outro ist dann wieder die Posaune prominent.

Mit „Bean and the Boys“ folgt nach dem Opener das zweite und auch schon letzte Hawkins-Original – Komponieren gehörte ja nicht gerade zu den wichtigsten Fähigkeiten. Auch dieser Throwaway-Blues ist ganz raffiniert gesetzt, es gibt boppige Interludes, die Trompete von Stafford schert schon im Thema mal aus und kriegt dann das erste Solo. Nach einem Tutti ist Schroeder am Barisax an der Riehe, dann Wallace, der hier zunächst fast nur an seinen jumpenden Linien erkennbar ist, in der Höhe bleibt und fast wie ein Altsax klingt. Erst mit der Zeit lässt er seinen ruppigen Ton aufblitzen, geht öfter in die Tiefe hinab. Dann folgt Vega am Klavier, der auch das nächste Stück, „Honeysuckle Rose“ von Fats Waller, solo öffnet – in langsamem Tempo, allmählich bluesiger werdend. Wenn die Bläser einsteigen, wird es nicht etwa schnell, sondern sie begleiten das Klavier, das weiter improvisiert, sich da und dort dem Thema annähernd. Nach zwei Minuten ein Drum-Break, das Tempo jetzt schnell, dann das Thema von all den Bläsern mehr oder weniger im Unisono vorgestellt – und wieder um zusätzliches boppiges Material ergänzt. Das erste Solo kriegt einer der Altsaxer – ich weiss nicht, ob es im Booklet Solo-IDs gibt, ich habe die japanische CD von 2018 – auch hier habe ich eine Ewigkeit mit dem Kauf gewartet, das Konzert aber davor schon teils vom Radio mitgeschnitten. Ich tippe auf Leali als ersten und Davis als den folgenden Solisten mit dem grösseren Ton. Die beiden spielen dann im Wechsel eine lange Alt-Battle – auch das eine ganz schöne Idee, zumal Wallace hier ja der einzige am Tenorsax ist. Dieses kriegen wir hier gar nicht zu hören, denn danach leitet Schroeder am Barisax durchs boppige Interlude und spielt das letzte Solo.

Wallace gibt’s dann in „Body and Soul“ – klar darf das nicht fehlen. Auch hier ein schönes Arrangement und ein feines Solo, wieder mit dieser zurückhaltenden, klarinettenartigen Sonorität vom Opener. Das Solo ist nicht sehr lange und wird von einem Altsax gefolgt – doch dann ist Wallace nochmal an der Reihe, über ziemlich eigenwillig arrangierte Linien und Akkorde der anderen, bevor sich daraus eine lange Solo-Kadenz herausschält, aus der Wallace dann wieder zum Thema findet. Als Closer gibt es eine 16minütige Version von „Joshua Fit the Battle of Jericho“ mit growlendem Blech über die stompende Band im Intro – die Rhythmusgruppe bleibt über Minuten bei diesem einen Riff. Ray Anderson kriegt dann das lange erste Solo. Dann wird es ganz still, die Rhythmusgruppe rifft, Wallace steigt ein, nah am Thema, von dem er sich allmählich frei spielt, während Alvin Queen immer aktiver wird, bis sich das zu einem Duo mit ihm und Wallace entwickelt, während der Bass mal Pause vom Riff hat und auch das Klavier aussetzt. Danach folgt Queens eigenes Solo – und dann kehren die Bläser riffend zurück, das Riff der Rhythmugruppe setzt wieder ein … und ich merke auch, woran mich das ein wenig erinnert: die famose Version von „Swing Swing Swing“ von Benny Goodmans Konzert in der Carnegie Hall 1938. Über dem Riff und den Blech-Growls ist dann nochmal Davis (?) am Altsax an der Reihe, bevor es einen handgemachten Fade-Out gibt. Zum Schluss also nicht der erwartete (oder befürchtete) Blow-Out, in dem jeder nochmal ein Solo kriegt, sondern bis zum Schluss ein durchdachtes, tolles Set und obwohl irgendwie Repertoire-Musik ein durchaus gelungener frühzeitiger Abschied von Bennie Wallace.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #153: Enja Records - Entdeckungen – 11.06., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba