Antwort auf: Enja Records

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Paquito D’Rivera – Habanera | Das nächste Experiment ist in meinen Ohren ein ziemlich gut gelungenes. D’Rivera spielte zwar mit den Beteiligten davor noch nie, mochte die Arbeit von Daniel Schnyder aber sofort – auch sein Spiel am Sopransaxophon. Schnyder agiert hier nicht vornehmlich als Arrangeur sondern als Produzent – für ENJA und das Schweizer Fernsehen, die Sessions fanden im September 1999 im Clinton Studio in New York statt. Franco D’Rivera, der Sohn, übernimmt einige Arrangements, von Stücken des Vaters, von George Gershwin, Duke Ellington und Dizzy Gillespie, zudem steuert Mino Cinelu zwei Takes des „Moon Dance“ bei. Das Material wählten die beiden D’Riveras mit Schnyder und dem Dirigenten Kristjan Järvi aus, der mit seinem Absolute Ensemble (zehn Holz- und Blechbläser, maximal elf, wenn Dave Ballou an der Trompete sie verstärkt, dazu fünf Streicher, Klavier und zwei Schlagzeuger). Die Jazzband besteht neben den auf dem Cover genannten Mino Cinelu (perc) und Kenny Drew Jr. (p) noch aus Michael Formanek (b), Clarence Penn (d) und David Taylor (btb). Die Besetzungen wechseln ständig, sind aber leider nicht einzeln deklariert. Das enja-Logo ist hier durch den Zusatz „NOVA“ ergänzt. Keine Ahnung, ob es das noch öfter gibt.

D’Riveras „Afro“ – hier gibt es keinen Arrangement-Credit, daher hat das wohl Paquito selbst geschrieben – öffnet mit einer Flöte (Valerie Chermiset) über den Bläsern des Absolute Ensemble, dann steigt Cinelu (vermutlich) zusammen mit dem Fagott (Martin Kuuskmann) mit einem Riff ein. Die Klarinette hier kommt zunächst nur aus dem Ensemble (Vadim Lando), erst nach über zwei Minuten stösst D’Rivera dazu. Ein behutsamer Einstieg, der sofort klar macht, dass hier nicht durch Klassiker geröstet wird mit ein paar netten Backings vom Orchester, sondern dass ein echter Dialog zu erwarten ist. Die „Habanera“ von D’Rivera (arr. Franco D’Rivera) wird dann von den Streichern präsentiert, D’Rivera darüber auch wieder an der Klarinette – das ist ziemlich zarte Musik, Klangschön, unerwartet … und sie findet einen wirklich eigenen Weg durch die brackigen Fahrwasser solcher Jazz-und-Klassik-Produktionen. In „Birks Works“ ist dann zum ersten Mal die Jazzband zu hören, mit Cinelu und ohne Credit fürs Arrangement, daher wohl einfach eine Performance mit einem Lead-Sheet.

Dann beginnt das Gershwin-Segment: Franco D’Rivera hat die Drei Préludes für Altsaxophon und Ensemble arrangiert. Bläser und Percussion begleiten D’Rivera – die Musik klingt sehr vertraut und dann doch wieder nicht, weil das ja sonst Stücke für Klavier solo sind. Die Latinisierung funktioniert im „Allegro ben ritmato e deciso“ hervorragend. Im „Andante con moto a poco rubato“ klingt der Choral der Blechbläser (Dave Taylor dürfte hier dabei sein?) eher nach „Porgy & Bess“ und D’Rivera glänzt mit seinem satten Ton. Auch das ein schönes Arrangement und mit über dreieinhalb Minuten das längste der drei Stücke, bevor die Preludes mit dem kurzen Agitato (es ist hier fälschlich wieder als „Allegro ben ritmato e deciso“ beschriftet) beschlossen werden. Hier ist dann Ballous Lead-Trompete zu hören – alles sehr charmant, aber zu kurz, um weit zu tragen. Das ändert sich bei den über zehn Minuten dauernden „Variations on ‚I Got Rhythm‘ and ‚Cuban Overture'“, in denen Schnyder das Arrangement beisteuert. Hier sind die Jazzband und das Ensemble zusammen zu hören und nach dem Rhythm-Thema ist Kenny Drew Jr. dran, soliert über Formanek/Penn mit Einwürfen der Blechbläser. Nach einer Überleitung mit den Streichern und Holzbläsern steht Formanek im Zentrum. Dann leitet ein schnelles Klavier-Riff in den nächsten Teil über: rasendes Klavier mit Rhythmusgruppe und dan steigt das Ensemble dazu ein – und darüber improvisiert D’Rivera bluesig am Altsax – das ist wohl der Cuban Overture-Teil, bevor es am Ende wieder zu „Rhythm“ zurück geht.

„Alborada y Son“ von D’Rivera (wieder selbst arrangiert, nehme ich an) basiert erneut auf einem Riff des Fagotts, über dem die anderen Bläser ihre Linien spielen und der Komponist an der Klarinette dazustösst. Die zwei Versionen von Cinelus Solostück „Moon Dance“ umrahmen zwei kurze D’Rivera-Kompositionen. „Wapango“ (singende Klarinette über Percussion und Bläser inkl. Bassposaune) und den von Franco arrangierten „Vals venezolano“ (auch hier wieder schöne Klarinette des Leaders, aber über die Streicher), die wiederum um „Caravan“ herum gruppiert sind, mit acht Minuten noch ein längeres Stück mit höherem Jazzanteil: eine Trio-Performnance von Drew Jr., Formanek und Penn (keine Extra-Percussion, glaube ich). Den Abschluss machen dann die Ernesto Lecuona gewidmeten „Leconerias“, einem wunderbaren Klarinettensolo von zwei Minuten Dauer.

Als Fazit: gelungen, vielleicht da und dort etwas zu verhalten … und etwas mehr Improvisation (vs. brav seine Parts spielen) vom Leader hätte mir auch nicht übel gefallen. Als Ergänzung vom oft unter Hochdruck stehenden Werk D’Riveras aber auf jeden Fall eine feine Sache!

The World Quintet Featuring the London Mozart Players and Herbert Grönemeyer | Richtig gelesen: Grönemeyer auf Enja. Das World Quintet ist eine Klezmer-Band aus Basel, gegründet 1986 als Duo mit dem Namen Kol Simcha (später auch „Kolsimcha – The World Quintet“) von Josef Bollag und David Klein. Als 2002 dieses u.a. im Abbey Road Studio 1 in London, Studios in Belgien und der Schweiz sowie in der Kirche Boswil aufgenommene Album erschien, bestand die Gruppe aus Michael Heitzler (cl), Ariel Zuckermann (fl), Olivier Truan (p), Daniel Fricker (b) und David Klein (d). Die London Mozart Players werden von David Angus geleitet und sind auf fünf der elf Stücke dabei, Grönemeyer nur auf einem davon (bei dem die Mozart Players nicht angegeben werden, aber zu hören sind): „Trauer“, Musik von David Klein, Text von Selma Meerbaum, einer rumänisch-deutschsprachige Dichterin aus Czernowitz, die 1942 im SS-Arbeitslager Michailowka entkräftet an Fleckfieber starb – mit gerade einmal 18 Jahren. Das ist ein Zufallskauf, der nur selten läuft … ist nicht meine Ecke, aber gefällt mir eigentlich ganz gut. Das meiste Material hat Olivier Truan komponiert – und ich nehme an auch arrangiert: vom Klarinetten/Flöten-Duo „The Chase“ bis zu den ambitionierten Intermezzi #1 und #3 mit dem Orchester. Von Michael Heitzler stammen das jazzige „The Rod“ (auch mit etwas Orchester) und das abschliessende „Lied ohne Worte“, gespielt im Duo mit Truan.

David Klein Quintet – My Marilyn | Vielleicht hat es schon wer geahnt: David Klein, der Drummer des World Quintet, hat auch ein Album als Tenorsaxophonist auf Enja gemacht, eine Hommage an Marilyn Monroe, die zugleich eine Hommage an seine Mutter ist, die Sängerin Miriam Klein (sie nahm u.a. ein legendäres MPS-Album mit einer hervorragenden Band auf, „Lady Like“). Ich hab davon eine Art Vorzugsausgabe in einer dicken Papphülle, die Präsentation ist überhaupt sehr schön, das Booklet auf dickes Papier gedruckt, darin Fotos von Monroe und diverse Texte, auch einer zu ihrem Jazzbezug (mit dem Foto, das sie mit Ella Fitzgerald zeigt, daneben), zudem Texte von Weggefährt*innen wie Jane Russell („I love your CD“ schreibt sie, „and know Marilyn would have gotten a big kick out of hearing it (Maybe she still does)“. Aufgenommen wurde das Album in den Hard Studios in Winterthur (auch hier keine Daten) mit einer exzellenten Band: Mulgrew Miller (p), Ira Coleman (b) und Marcello Pellitteri (d), sowie auf dem Opener „Kiss“ Jon Otis (perc), auf dem auch Miriam Klein gleich zum ersten Mal zu hören ist. David Klein ist kaum der originellste Saxophonist – aber sein Ton ist sehr schön, er setzt seine Mittel sehr gekonnt ein … und wird von der Rhythmusgruppe stets perfekt begleitet. Es gibt nach dem Opener aus „Niagara“ vier Songs aus „Let’s Make Love“ (weil „My Heart Belongs to Daddy“ – neben „Let’s Make Love“, klar – auch wieder dabei ist: den Text brauch ich hier eigentlich auch wirklich nicht … ich mochte den Song instrumental schon sehr gerne, bevor ich zum ersten Mal die Lyrics hörte – auch hier gefällt mir das Stück rein instrumental sehr gut), dazwischen auch „You’d Be Surprised“ und „She Acts Like a Woman Should“, danach noch „Diamonds Are a Girl’s Best Friends“ und zum Ausklang das Titelstück und „I’m Through with Love“ aus „Some Like It Hot“. Miriam Klein singt fast immer mit, auch auf „Incurably Romantic“, dem ersten der Songs auf „Let’s Make Love“, setzt aber auf dem vierten, „Specialisation“, wieder aus. Das dritte Instrumental ist dann der Closer.

Composer-Credits hat man aber seltsamerweise trotz der sonst so aufwändigen Produktion vergessen. Beim Edel-Reissue von 2010 stehen sie dann anstelle der Film-Quellen dabei – ansonsten ist die Rückseite wie bei der Originalausgabe von 2001 gestaltet, das Foto mit Ella gibt’s im Booklet noch in gross.

Darüber, dass Klein inzwischen Autor bei der Weltwoche ist, schweigen wir lieber … ich habe die CD auch lange nicht gehört und brauchte jetzt diesen äusserlichen Anlass, um mich zu überwinden.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #153: Enja Records - Entdeckungen – 11.06., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba