Antwort auf: Enja Records

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Ingrid Jensen – Here On Earth | Das zweite Album der Trompeterin Ingrid Jensen war bei mir auch ein 90er-Beifang. Es gefällt mir ziemlich gut, nicht nur dank des lyrischen Spiels der Leaderin sondern auch dank der starken Band und des guten Materials. Aufgenommen wurde das Album am 19. und 20. September 1996 im Systems Two in Brooklyn (Joe Marciano). Nach der All-Star-Band auf ihrem Debut „Vernal Fields“ brachte Winckelmann sie hier mit Leuten zusammen, die sie schon lange kannte und mit denen es nicht vieler Worte bedurfte, wie Jensen in den Liner Notes sagt: George Colligan (p, rhodes), Dwayne Burno (b) und Bill Stewart (d) bilden eine bewegliche aber total geerdete Rhythmusgruppe, die aufeinander und auf die Leaderin wirklich fein abgestimmt sind.

Im zweiten Stück, „Woodcarvings“, einer Hommage im 12/8-Takt an das Vorbild Woody Shaw, wechselt Colligan ans Fender Rhodes und Gary Bartz am Sopransax taucht erstmals auf – der wichtigere der „and others“ auf dem Cover, der courtesy of Atlantic Records dabei sein darf und ein paar starke Soli beisteuert. Im Booklet ist zu lesen, dass Jensen eine „totally religious experience“ hatte, als sie Bartz ein paar Jahre zuvor in einem Club in New York hörte und er ein wohl 25minütiges Solo spielte „and it felt like everyone left the planet with him because it was such a spirited and deep, passionate way of attacking a blues“. Danach habe sie gedacht: „This is a person I’m going to dream of playing with the rest of my life“. Im folgenden Titelstück sielt Bartz dann Altsax, Colligan hat das Stück geschrieben (auch den Opener „Shiva’s Dance“ sowie die sehr eigenwillige Reharmonisierung von „You Do Something to Me“, in dem Bartz auch am Altsax dabei ist, Jensen die Trompete mit Dämpfer spielt). Für Bill Evans‘ „Time Remembered“ hat Jensen eigene Lyrics geschrieben und sie der Sängerin Jill Siefers anvertraut, der anderen mit „and others“ gemeinten Mitwirkenden.

Der andere Evans, Gil, ist mit „Time of the Barracudas“ vertreten, in dem Dwayne Burnos Bass eine prominente Rolle einnimmt und Stewart am Schlagzeug glänzt: irgendwie unberechenbar, zupackend, aber dabei sehr leicht und locker wirkend. Evans ist auch deshalb total logisch, weil Jensen auch (auf CD erst 2000, aber sie dankt hier Schneider schon) zur Band von Maria Schneider stiess (als zweite Frau in der Trompetensection, zu der schon Laurie Frink gehörte). Colligan sitzt hier passenderweise wieder am Rhodes. „Ninety-One“ stammt von einer damals kürzlich verstorbenen Freundin von Jensen und Colligan, der Pianistin Mercedes Rossi. Die zwei spielen es als Duo: „George originally was a trumpet player and a drummer […] and his trumpet playing reminded me of Woody Shaw. For a number of reasons he switched to piano, but his experiences with those other instruments makes him the ideal collaborator and supporter for what I’m trying to do.“ Kenny Wheeler ist ein anderes Vorbild von Jensen und von ihm stammt das folgende „Consolation“, in dem Seifers zum zweiten Mal singt – ohne Text und zunächst fast wie eine zweite Trompete klingen (oder ein Flügelhorn – im ersten Stück mit Seifers spielt Jensen gemäss den Liner Notes jedenfalls Flügelhorn).

Bevor das Album mit Hank Mobleys „Avila and Tequila“ endet, ist noch „Fallin'“ zu hören, komponiert von Jensens jüngerer Schwester Christine – nicht das erste im Dreiertakt, nach dem Titeltrack und der Shaw-Hommage im 12/8. Bartz ist auf beiden dabei, Colligan spielt im ersten wieder das Rhodes. Im Closer kriegt dann Bill Stewart einen ganzen Durchgang, nachdem der Solo-Reigen mit Bartz in Zitierlaune begonnen hat und Jensen statt eines Solos direkt mit Fours mit Stewart begann. Für mich ist das unterm Strich ein Album, das ein gutes Stück besser ist, als ich im Voraus erwartet hatte – greater than the sum of its parts, wenn man so will.

Franco Ambrosetti – Light Breeze | Für sein Album, das am 11. und 12. April 1997 in den Avatar Studios in New York von Jim Anderson aufgenommen wurde, entwickelte Ambrosetti ein neues Konzept: Die Musik wurde in einer Art Suitenform in einem Take aufgenommen. Davor gab es nur eine Probe, bei der das Material angeschaut und der Ablauf geklärt, aber keine Soli geprobt wurden oder sowas. Auch die fünf kurzen Solo-Interludes (eins pro Musiker), die zwischen allen Stücken ausser den letzten zwei zu hören sind, wurden nicht geprobt. So sollte die Spontanität eines Live-Gigs unter Studiobedingungen gewährleistet sein. Die Musiker, die Ambrosetti dafür um sich scharte, waren so einer Situation natürlich gewachsen: John Abercrombie (g), Antonio Faraò (p), Miroslav Vitous (b) und Billy Drummond (d) spielen mit ihm der Reihe nach Stücke von Daniel Humair („Versace“, der Opener), Gian Luca Ambrosetti („Deborah“), vom Leader selbst („Conempo Latinsky“), den Standard „My Foolish Heart“, „One for the Kids“, einen Romp vom alten Gefährten George Gruntz über einen New Orleans-Beat, Coltranes „Giant Steps“ sowie – auf dieses ohne Interlude folgend – ein zweites Stück vom Leader, „Silli in the Sky“. Das ist tatsächlich ein hübsches Album mit einem guten Flow geworden – und mit einem treffenden Titel obendrein. Ich hatte es bei meiner Ambrosetti-Vertiefung neulich ausgelassen bzw. in der Chronologie aufgehört, bevor ich zu dieser CD gekommen wäre, die seit wohl 25 Jahren da ist und sich im Nachhinein zwar nicht als der beste Einstieg erwies, aber eben doch als eine lohnenswerte Anschaffung. Die Sidemen kriegen alle ihre Spots und liefern gute Soli, es ist hier aber der Leader am Flügelhorn, der mit feinem Ton und singenden Linien über allem schwebt und das Album prägt.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #153: Enja Records - Entdeckungen – 11.06., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba