Antwort auf: Enja Records

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The Indica Project – Horn OK Please | Die bemalte Rückseite eines indischen Lastwagens ziert das Cover dieses Albums, mit dem mein kleiner Enja-Weber-Ausflug beginnt. Hier scheint jemand mal versucht zu haben, den Puls der Zeit zu erwischen – und kam dem Album „OK“ von Talvin Singh sogar noch ein Jahr zuvor. Greg Osby braucht man in einem Jazzforum nicht vorzustellen – er spielt allerdings hier nur auf en ersten zwei Tracks, der „Ganpati Parade“ und „Theme for Hawk Hemp“. D Wood (g, perc) und Stormss (b, perc) haben die Musik geschrieben und das Album produziert, das in Mumbai und New York aufgenommen wurde (Music Room, Mumbai, Dezember 1995; Spectral Harmony, Mumbai, April 1996; Studio 900, NYC, April-Mai 1996). Wer die zwei Produzenten sind, weiss ich nicht – beide haben keine weiteren Credits bei Discogs.

Der indische Teil der Band besteht aus Sriram Iyer (v) sowie Mukesh Parmar, Shashank Joshi und Vijay Chavan (perc) in der öffnenden „Ganpati Parade“ (mit Osby und den beiden Produzenten) und den drei Percussionisten (ohne weitere Musiker) in der kurzen abschliessenden „Ganpati Parade Reprise“, die in der Liste der Stücke fehlt. Bei den restlichen Stücken bilden Iyer, Bhooshan Munj (tabla) und Bobby Duggal (ghatam) zusammen mit Bob Weiner (d) und den Produzenten die Basis-Band. Nach dem zweiten Auftritt von Osby (Violine zum einstieg, dann ein funky Groove) folgt mit „The Workshop“ ein langes reines Percussion-Stück (Weiner, Munj, Duggal, D Wood, Storms) – entstanden, als Weiner unerwartet in Mumbai auftauchte und für Masterclasses und Sessions zu den anderen stiess. In „The Guide“ sind zwei Gäste aus Südafrika zu hören: Morris Goldberg spielt die Pennywhistle und der Ende Januar verstorbene Tony Cedras das Akkordeon. D Wood öffnet an der Gitarre mit Klängen zwischen Funk und Gospel, dann spielen sie alle zusammen, Violine, Akkordeon, Pennywhistle im Kontrapunkt über einem Groove von etwas Gitarre, satter Bassgitarre und einem etwas schwierigen Percussion/Ghatam-Mix (die Tabla machen Pause). Das Stück schliesst mit einer Trommel-Improvisation. Für das folgende Titelstück (das letzte vor der Reprise des Openers) sind die zwei Produzenten mit Violine, Percussion, Tabla und Ghatam zu hören: „This exuberant road song is driven by Indian and Latin rhythms and features an extended duet between bass and cuica: a Brazilian friction drum“.

Das Album höre ich heute erst zum dritten Mal – ich fand es, als wir uns in die Neunziger eingruben und ich ein paar Osby-Lücken schloss (die liefen noch nicht, sind sonst auch alles spätere Sachen). Ich finde den Mix alles in allem ziemlich gelungen – es gibt kaum dominanten Stimmen, einen guten Gruppensound (was auch überraschend ist, weil ich denke, dass die Sachen zumindest teils erst im Studio montiert wurden), die Improvisationen – allein oder in der Gruppe – wirken spontan, die Grooves machen Spass und funktionieren bei allem Eklektizismus ziemlich toll. Auf dem Rückcover ist hier ein Logo zu sehen, das ich sonst noch nicht kannte: „enja world“ um die Umrisse von Indien herum gruppiert (und Air India wird als Transport-Sponsor verdankt).

Interessant, dass Weber hier die Nase scharf am Wind hatte, weil ich die Neugierde für andere Sounds und auch für Inkohärentes, das dann in Alben irgendwie geschickt zusammengesetzt wird, sonst eher bei Winckelmann zu sehen glaube.

Charlie Mariano / Quique Sinesi – Tango para Charlie | Das Duo-Album von Charlie Mariano mit Enrique „Quique“ Sinesi, der u.a. mit den Tango Nuevo Gruppen von Dino Saluzzi und Pablo Ziegler (der zu Piazzollas Gruppe gehörte) gespielt hat, wurde am 29. und 30 Oktober 2000 im Hans Studio in Bonn mitgeschnitten, produziert hat Werner Aldinger. Mariano spielt auch mal Flöte, Sinesi wechselt zwischen einer „7 string spanish guitar“, einer „charango“ und einer „piccolo guitar“. Los geht es vierteilig mit „Berliner Tanguismos“ von Sinesi, für die restlichen zwei Drittel wechselt das Material zwischen den beiden.

Das ist ein sehr schön klingendes Duo, das sich aber für meine Ohren manchmal auch etwas im Wohlklang erschöpft und etwas eintönig wird, auch wenn die Gitarre durchaus schön klingt – ich warte dann auf den Wiedereinstieg von Mariano am Saxophon, an dem er so gut klingt wie auf „Deep in a Dream“. Die Balance passt aber schon ganz gut, die Gitarre wechselt nahtlos zwischen Begleitung und Soli (bei denen ich mir aber nicht sicher bin, wie oft da wirklich improvisiert wird – oft wirkt das auf mich ziemlich ausgearbeitet oder auch sehr nah an den Strukturen der gespielten Songs). Im Closer, „Gone“, nur zwei Minuten kurz, greift Mariano dann zur Querflöte – und ich frage mich, ob die nicht schon früher ein paar Mal hätte eingesetzt werden können, um das Album etwas abwechslungsreicher zu gestalten.

Schön, aber für meine Ohren etwas eintönig und zu lang. Unter dem Logo und der Katalognummer auf dem Rückcover steht hier übrigens klein gedruckt noch „classic jazz“ dazu – wie auch beim folgenden Album, ebenfalls ein Duo.

Archie Shepp & Mal Waldron – Left Alone Revisited | Classic Jazz? Vielleicht. Mal Waldron schreibt im kurzen Begleittext, dass es für ihn nach Billie Holidays Tod lange zu schmerzhaft gewesen sei, die mit ihr verbundenen Songs zu spielen, aber bei der Begegnung mit Archie Shepp (7. und 8. Februar 2092 in der „Muse en circuit“ in Paris) passte es zum ersten Mal – vielleicht auch, weil Shepp das Material ausgewählt hätte: „performing the songs became for me a joyous time in which I recalled many happy and positive moments together with Billie. Also re-estabilishing contact with Archie Shepp, who is one of the truly great saxophonists of our time, made the creation of this album a fantastically uplifting experience for me!“

Ein Wiederhören (meiner 20jährigen CD-R – mal schauen, ob sie bis zum Schluss so reibungslos läuft wie am Anfang), das mit etwas Angst behaftet war, gerade nachdem ich neulich mit „Body & Soul“ meine liebe Mühe hatte – aber das scheint dieses Mal völlig unbegründet zu sein. Shepp kommt hie und da in die Nähe der Klänge, die mich bei „Body & Soul“ stören, aber hier ist das alles gerade sehr erträglich – zum ersten Mal überhaupt. Allerdings habe ich seit ein paar Jahren keinen neuen Anlauf gewagt. Das freut mich gerade sehr, denn ich entdecke dieses Album heute völlig neu!

Die Auswahl der Songs ist natürlich toll, mein Favorit (unabhängig von Aufnahmen von Holiday oder anderen) ist wohl „Nice Work If You Can Get It“ (George & Ira Gershwin). Im darauf folgenden „Everything Happens to Me“ wechselt Shepp ans Sopran – und es klingt manchmal so, als sei er kurz vorm Entgleisen: Intonation, Atem/Luft, ein nur halb getroffener Oberton, der unrein verklingt – als Hommage an Holiday wahnsinnig berührend, und für sich genommen einfach sehr persönlich, fast intim – und sehr schön. Natürlich fehlt Waldrons „Left Alone“ nicht (am Schluss der CD gibt es noch – vermutlich von Shepp gesprochen? – den zugehörigen Text von Holiday), und auch „Lady Sings the Blues“ (Text von Holiday, Musik von Herbie Nichols) darf nicht fehlen. Die Gershwins (und DuBose Heyward) sind mit „Porgy“ erneut vertreten, Shepp steuert seinen „Blues for 52nd Street“ bei. Den Einstieg ins Album mach „Easy Living“, und in seiner Mitte stehen „When Your Lover Has Gone“ und „I Only Have Eyes for You“, letzteres wieder mit diesem unendlich berührenden Sopransaxophon.

„Left Alone“ ist vielleicht mein grosses Highlight: neun Minuten, in denen eine ganze Welt aufgeht – die Zeit, die Zärtlichkeit, der Atem … grossartig. Die Gradlinigkeit und Direktheit, die scheinbare Einfachheit dieser Musik lässt mich heute auch mal an Carlos d’Alessio denken, die Musik, die er für Marguerite Duras‘ „India Song“ komponiert hat. Natürlich wird hier unendlich nuanciert aufgespielt, sowohl von Waldron – der seine Grooves für einmal überhaupt nicht auspackt und viel weicher, verletzlicher klingt als meistens – wie auch von Shepp, der besonders am Tenor (wo er das obertonreiche Spiel natürlich perfekt beherrscht) mit einer unendlich nuancierten Tongestaltung glänzt.

Wirklich schön, dieses Album nach zwanzig Jahren und halb so vielen Anläufen nun doch endlich noch zu entdecken.

Karin Krog – Where You At? | Die letzte Runde des kleinen Weber(/Aldinger)-Exkurses: die grande dame aus Norwegen trifft an in New York („The Studio“, 4.-6. November 2002) auf das Trio des Pianisten Steve Kuhn (David Finck am Bass und Billy Drummong am Schlagzeug) – mit dem Krog zuletzt 1974 „We Could Be Flying“ eingespielt hatte. John Surman produziert – mein Cover ist völlig anders als das, mit dem @vorgarten nicht bei Parties gesehen werden wollte (ich finde den Post nicht mehr, grad ne Viertelstunde gesucht, statt endlich das Album zu hören begonnen …) – auch nicht viel besser, allerdings.

Mit Kuhns „The Meaning of Love“ geht es los – und das setzt den Ton für die Auswahl der Stücke: es folgen zwar das Titelstück (Handy/Segal) und dann „Lazy Afternoon“ im Duo mit Kuhn (LaTouche/Moross – Kuhn nahm es mit Pete LaRoca für dessen Blue Note-Album „Basra“ auf) und später noch „You Say You Care“ (Styne/Cahn) und als Closer „Gloomy Sunday“, doch es gibt auch sechs weitere Originals von Leuten, die im Studio dabei waren: „Speak of Love“ („Adagio“ war der Originaltitel, bevor es Lyrics dazu gab) und „Saharan“ (früher „The Baby“) von Kuhn, „It Could Be Hip“, „Kaleidoscopic Vision“ und „Missing Calada“ von Krog/Surman sowie „Canto Mai“ von Surman.

Nach dem „Nordic Quartet“ auf ECM, das ich mal zufällig aus einer Grabbelkiste gezogen hatte, war das mein erstes richtiges Krog-Album. Wie abenteuerlich ihr Gesang sonst oft war, ahnte ich damals noch nicht. Ich mag diese Session mit Kuhn schon sehr gerne – aber obwohl ich die richtige Krog-Vertiefung (eins dieser noch nicht gebührend umgesetzten foruminduzierten Projekte) noch nicht hinter mir habe, ist das längst kein Lieblingsalbum mehr. Das Trio agiert hervorragend aber ich mag es instrumental lieber (z.B. auf „Dedication“ und „Countdown“ auf Reservoir, 1997 und 1998 eingespielt).

Dass sie sich bei einigen Songs von Dave Frishberg („You Say You Care“ und „Where You At?“) inspirieren liess, bei letzterem auch Bob Dorough (mit dem Frishberg das Stück eingespielt hat) genannt wird, ist kaum ein Zufall. Bei „It Could Be Hip“ liegt auch der Gedanke an Blossom Dearie nicht fern, die Frishberg/Doroughs „I’m Hip“ eingespielt hat – doch in der Stimme von Krog höre ich hier eher leise Anklänge an ihre sieben Jahre ältere Kollegin Helen Merrill. Bei Surman gibt es ein Rubato-Intro in einer Fantasiesprache über Arco-Bass – etwas lyrisches Dada, bevor das ganze in einer Art Samba kippt (weshalb die an einen Mix aus Portugiesisch und Spanish erinnernde „Sprache“ nicht so fehl am Platz ist). Da öffnen sich viele Verbindungen – und vielleicht ist das Album gerade deshalb auch nicht mein liebstes (das war es früher, als es das einzige war … auf „Nordic Quartet“ taucht Krog ja nur vereinzelt auf).

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #156 – Benny Golson (1929–2024) – 29.10.2024 – 22:00 / #157 – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba