Antwort auf: Enja Records

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Italian Instabile Orchestra – Litania Sibilante | Mit meiner Liebe für das Anarcho-Orchester, in dem Pino Minafra seit den frühen Neunzigern die erste Auswahl der italienischen Free Jazzer versammelt, stehe ich im Forum ziemlich alleine da, wie es scheint. Das Line-Up, als die Band sich vom 6. bis 8. März 2000 in den RAI Studios in Rom versammelte, sah so aus:

Guido Mazzon, Alberto Mandarini, Pino Minafra – t
Giancarlo Schiaffini, Sebi Tramontana, Lauro Rossi- tb
Martin Myes – frh
Eugenio Colombo (fl, ss), Gianluigi Trovesi (ss, as, cl), Carlo Actis Dato (bcl), Daniele Cavallanti (ts), Mario Schiano (sax, voc) – reeds
Ubmerto Petrin – p
Renato Geremia – v
Paolo Damiani – vc
Giovanni Maier – b
Tiziano Tononi, Vincenzo Mazzone – d

und als Gäste: Enrico Rava – t; Antonello Salis – acc

Das von Enja Winckelmann und der RAI co-produzierte Album fällt in die Mitte der Zeit der Band (ca. 1990 bis 2009, danach gab es zumindest keine Aufnahmen mehr) und bietet einen ganz guten Einstieg in die sehr diverse Musik, die sich aus den unterschiedlichen Spieltraditionen der Regionen Italiens aber auch Jazz und Klassik speist. Der jeweilige Komponist übernimmt in seinen Stücken die Leitung – einen eigentlichen Leader sucht man vergeblich, auch wenn die Band ohne Minafras Organisationstalent natürlich nicht zustande gekommen wäre (und ohne die Mitwirkung von Riccardo Bergerone, der nach dem ersten One-Off-Konzert in Noci – ich nehme an dder auf dem Leo-Album teils dokumentierte Gig – zum Manager wurde).

Trovesis „Scarlattina“ bietet Sarabanden und Tänze, Märsche und eine Tarantella, dazwischen satte Big Band-Passagen. Damianis „Sequenze Fughe“ und Schiaffinis Titelstück weitere Anklänge an klassische Spieltraditionen, aber auch ziemlich packende Grooves – und ein Barisax, das im Line-Up vergessen ging (Cavallanti oder Actis Dato, letzterer könnte auch am ts zu hören sein) – und mit einem kurzen Reggae-Break leiten die Drummer die abschliessende gesprochene Passage von „Sequenze Fughe“ ein (Schiano in mehreren Sprachen im Overdub wohl). In „M42“ von Mandarini taucht dann das Akkordeon auf (die singende Trompete von Rava scheint immer wieder zu erklingen) – und die schon davor öfter zu hörende typische Vermischung von Einzelstimmen und dem Kollektiv, das dabei nie in brachiale Gefilde ausbricht, wie es weiter nördlich bei so einer Band definitiv ständig passieren würde – irgendwie gelingt es dem Instabile Orchestra auch wenn es krawallig wird immer, vor Charme nur so zu sprühen. Schiaffini hat dann das Arrangement für die Dekonstruktion von „Lover Man“ beigesteuert, dem kürzesten Stück hier, das dem Altmeister Mario Schiano gehört.

Zum Abschluss gibt es Minafras Set-Closer (ich hörte die Band 2006 im Konzert), eine aberwitzige Folge von Grooves, in der sich die verhasste white-collar Filmfigur Fantozzi in eine Art faschistische Metapher verwandelt, wie Art Lange schreibt. Minafra murmelt, brummelt, schimpft und klagt in sein Megaphon, während die Band theatralisch und flamboyant über mitreissende Two-Beat-Grooves in immer irrere Höhen und Tempi vorstösst. „If such a range of musical and dramatic effects seems exaggerated, remember, Italy is also the country of Antonioni and Fellini, Da Vinci and Dante, a place where stark realism and pure poetry coexist. You can feel these cherished contradictions in this music, music that gets the blood pounding, the mind clicking, and the spirit soaring“ – so Langes Schlusswort in den Liner Notes.

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