Antwort auf: Enja Records

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gypsy-tail-wind
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Charlie Mariano – Deep in a Dream | Dieses Album bleibt eine wunderbare Entdeckung. Mariano kannte ich da schon ein wenig, verehrte ihn wegen seiner Beiträge zu Mingus‘ „Black Saint and the Sinner Lady“, eins der Abou-Khalil-Alben war auch bereits bekannt, dazu ein paar der frühen Aufnahmen aus Boston (als Leader, mit Chaloff …) – aber auf dieses grossartige Alterswerk war ich nicht vorbereitet. Bob Degen hörte ich hier zum ersten Mal – und so gut kenne ich ihn bis heute nicht („Sequoia Song“ ist jetzt endlich unterwegs). Isla Eckinger ist natürlich ein grossartiger Bassist, aber auch das war mir damals noch nicht wirklich klar … Jarrod Cagwin hörte ich dann 2006 beim einzigen bisher erlebten Konzert von Rabih Abou-Khalil (Gavino Murgia, Michel Godard und Luciano Biondini waren auch dabei).

Es gibt über eine Stunde Musik, zehn Stücke von meist mittlerer Länge – nur „I’m a Fool to Want you“ und „Close Enough for Love“ ssind über neun Minuten lang. Standards, aber eher nicht der bekanntesten Sorte, machen den Löwenanteil des Programms aus: „You Better Go Now“ ist als Opener umwerfend und setzt die Stimmung so deutlich, dass es fast etwas überrascht, wenn es später auch mittelschnelle Stücke gibt, etwa „Spring Is Here“, in dem ich bei Marianos Intonation an die (auch hier) öfter zu hörende Aussage über die Intonation älterer Sängerinnnen denken muss: sehr persönlich, kann sein, dass man damit nicht auf Anhieb klar kommt, aber lohnt, sich einzuhören in die Musiksprache. Auch „I Only Miss Her When I Think of Her“ (Cahn-Van Heusen, aus dem Musical „Skyscraper“ von 1965 und damit eins der spätesten Stücke hier) kommt im schnelleren Tempo daher, als eine Art Jazz-Samba. Von den Fremdkompositionen ist „Close Enough for Love“ von Johnny Mandel und Paul Williams die jüngste, komponiert für den Film „Agatha“ (1979) mit Dustin Hoffman und Vanessa Redgrave und im selben Jahr von Peggy Lee eingespielt. Lehárs „Yours Is My Heart Alone“ ist dann an zweitletzter Stelle das dritte schnellere Stück – aber auch in diesen schnelleren Stücken klingt Mariano meist nachdenklich, sein Ton hat etwas zartbitteres, eine Süsse, die nicht ständig an der Oberfläche präsent ist.

Dazu kommen zwei Originals: „Dew Drops“ von Mariano, „Etosha „von Degen“, das als Feature für die Rhythmusgruppe dient – anscheinend der Not geschuldet, denn laut Marianos Statement im Booklet seien die Changes zu anspruchsvoll gewesen, als dass er sie direkt bei der Session hätte lernen können. Der Sound von Mariano ist unendlich schön – man könnte ihn irgendwo zwischen Lee Konitz (ohne die Sprödigkeit), Paul Desmond (ohne die Selbstgenügsamkeit) einordnen versuchen, aber das ist nicht so ergiebig, denn das ist ein so einzigartiger, individueller Ton, in dem auch eine – stille – Intensität mitschwingt, wie sie ganz anders beim späten Art Pepper zu hören ist. Ein Brennen, eine Unbedingtheit, die noch die einfachste Phrase zum Ereignis machen kann – etwa in der ganze drei Minuten dauernden Themenpräsentation von „I’m a Fool to Want You“. Die Rhythmusgruppe bettet das alles perfekt ein, entwickelt selbst sehr viel Charakter. Degen hat eine eigene Farbpalette dabei am Flügel, Eckingers tiefer Bass ist recht gut aufgenommen (schönes Solo in „The Touch of Your Lips“), der Youngster Cagwin verfügt seinerseits über eine exzellente Technik mit den Besen, was bei so einem balladenlastigen Album ein grosses Plus ist.

Die Aufnahme entstand am 2. und 3. November 2001 im Studio 44 in Monster, NL – und klar, das ist ein Winckelmann-Album, das Coverdesign kriegt um die Zeit herum wieder eine Richtung, die man mögen kann oder nicht, aber es gibt wieder einen gewissen Wiedererkennungswert.

„Well I guess you could say this is a perfect example of the right suggestion being made at the right time,“ Mariano explained in a phone conversation from his home in Cologne, Germany. „Matthias [Winckelmann, EENJA’s founder and producer] called me one day and asked if I’d like to record an album of standards. I was thrilled and replied: ‚Hey, man, I’d love to! That’s what I did for many, many years.‘ Matthias was particularly interested in having me play ballads which I love to do – it’s actually my forte.“

Die richtige Idee, die richtigen Leute, der richtige Augenblick – ein perfektes Beispiel für ein Album, das im Kopf eines Produzenten Form angenommen hat und ohne dessen Mitwirkung nie entstanden wäre. Und ein unerwartetes Meisterwerk.

Zur Katalognummernvergabe ab 9101 (als das alte Schema mit den Zweierschritten und maximal 50 Alben pro Tausenderkreis abgebrochen wurde): die Chronologie gerät hier durcheinander, Weber scheint die 9100er gekriegt zu haben, während Winckelmann mit den 9300ern fortfuhr. Die 9200er wurden weggelassen bzw. erst später für Reissues von späteren Weber-Alben in der „Enja Jazz Classics“-Reihe verwendet worden sein (mehrheitlich Weber, auch ein Winckelmann-Titel dabei – lief ab 2010 für längere Zeit, also wohl bis hin zur Zusammenführung der beiden Label unter Aldinger, für die ich nirgends ein genaueres Datum als „schon vor Winckelmanns Tod“ finden konnte) … die Takase 5-CD-Box, die ich schon ein paar Male erwähnt habe, kriegte 9230 (Weber).

Aus der 24bit-Master Edition hörte ich zwar auch schon viele Reissues die letzten Wochen, aber nach den Nummern hatte ich noch gar nicht geguckt: die kriegten den 2100er-Kreis (nur Winckelmann, glaub ich).

Dass Weber der 9100er-Nummernkreis ausreichte, Winckelmann aber bis in die 9600er vorstiess, zeigt, dass der Zweig fon letzterem wesentlich produktiver und aktiver war. Wobei bei Weber ja Aldinger zur Tat Schritt, yellowbird seit 2008 auch nochmal über hundert Alben (136 Einträge bei Discogs inkl. Doppeleinträge, Hanrahan-Reissues … aber auch mit Lücken) herausgebracht hat.

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