Antwort auf: Enja Records

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Ronald Muldrow – Diaspora | Für sein zweites Enja-Album (wieder Mal Enja Weber zwischendurch) wurde dem Gitarristen eine klassisch-elegante Rhythmusgruppe zur Seite gestellt: Mulgrew Miller (p), Peter Washington (b) und Yoron Israel (d). Das Format ist bekanntlich nicht mein liebtes, die Spieldauer von 76 Minuten ist auch gar grosszügig bemessen, zumal die Aufregung und der Groove vom Debut über weite Teilen fehlen. Muldrow spielt klassischer auf, mit schönem, singenden Ton. Es gibt elf Stücke, darunter sechs Originals vom Leader (inklusive Opener/Titeltrack), eins von seinem Boss Eddie Harris („Ambidextrous“ im 7/4 – Muldrows „Harris Me“ ist dem Saxophonisten gewidmet), dazu ein paar Klassiker: „Stella By Starlight“, „I Want to Talk About You“, Gene Ammons‘ „Hittin‘ the Jug“ und zum Ausklang „A Child Is Born“ von Thad Jones mit Bolero-Begleitung von der Rhythmusgruppe – ein Kabinettstücklein, aber das passt als Closer ganz gut. Das swingt alles sehr elegant, es gibt auch mal Latin-Beats („Senzeni“ ist eine Art langsame Samba, nicht weit von Bossa Nova) oder einen Shuffle nach Vorbild der Jazz Messengers („A Minor Mention“) und natürlich Balladen (allen voran „I Want to Talk About You“, das Evergreen von Billy Eckstine, ein Highlight, was Muldrow angeht) – aber es ist am Ende definitiv zu viel, um mich bei der Stange zu halten. (Den Post drüber hab ich auch geschrieben, weil ich hier gerade noch deutlicher ins Nachdenken komme als bei den Alben des Vormittags.)

Aufgenommen wurde das Album am 26. August 1993 im Sear Sound Studio in New York.

Allen Lowe / Roswell Rudd – Woyzeck’s Death | Auf der Rückseite ein Portrait von Georg Büchner, die Liner Notes natürlich von Allen Lowe selbst: „In every art form there occasionally appears a figure whose vision is so original, so startling and so new that it seems to sweep previous expression away“ – und so eine Figur sei Büchner gewesen. Louis Armstrong, Lester Young und Charlie Parker nennt Lowe dann als vergleichbare Erscheinungen im Jazz: „They all realized, at least instinctively, that for the music to advance it had to change its grammar, and to abandon its reliance on worn out structures and fading ideas. Büchner’s innovations were in exactly those areas, of language and form, in which art has always renewed itself.“ Lowe plädiert mit Büchner dafür, auch im Jazz die „liberating lessons of modernism“, die ja immerhin schon über 150 Jahre alt seien, zu berücksichtigen. Mit seiner Suite „Woyzeck’s Death“ will er einerseits Büchner würdigen, seine intellektuelle und künstlerische Schuld anerkennen. Andererseits aber auch tatsächlich eine Art „musical analog to certain scenes of the play“ schaffen. Ein Satz(fragment) aus dem Stück stellt er jedem der neun Teile voran, wobei er sich mit er Reihenfolge nicht an den Ablauf des Dramas von Büchner hält.

Allen Lowe (ts), Randy Sandke (t), Roswell Rudd (tb), Ben Goldberg (cl/bcl), Andy Shapiro (p/synth), Jeff Fuller (b) und Ray Kaczynski (d) sind die Band, die am 3. un 4. Mai 1994 im Systems Two in Brooklyn von Mike Marciano aufgenommen wurden. Lowe hat selbst produziert, Winckelmann hat die Session dann herausgebracht. Zum Abschluss gibt es 20 Minuten Musik aus Rudds Feder: „Bonehead“ sei „just a fun tune“, die über 13 Minuten lange „Concentration Suite“ bestehe aus drei Teilen, „like dances“, gewidmet „three lives, who made sounds to go along with my recollections. It’s about concentration on remembering the lives of three people who have since passed.“ Herbie Nichols it er erste Teil gewidmet, Chris McGregor der dritte, der mittlere sei „a recollection of singing nonsense songs an messing around with Beaver Harris“.

Der relativ üppige Einsatz des Synthesizers ist auch aus heutiger Sicht eher gewöhnungsbedürftig und hätte sicherlich verhindert, dass ich das Album damals gekauft hätte, obgleich ich 1995 wohl gerade selbst zum ersten Mal von Büchners Sprache enorm beeindruckt gewesen bin und für so ein Album durchaus empfänglich gewesen wäre … ohne Synthesizer. Aber ich kann mich nicht erinnern, die CD je gesehen zu haben oder Lowes Namen je gehört, bevor er bei Organissimo aufgekreuzt ist. Jedenfalls ist die das Material abwechslungsreich und vier starke Solisten inklusive einer seltenen Klarinette helfen. Die Musik von Rudd am Schluss, in der auch kein Synthesizer mehr auftaucht, tut dem Album dann ebenfalls mehr als gut (gesungen wird hier übrigens nicht).

The Hal Galper Trio with Jerry Bergonzi – Rebop | „‚There are people,‘ Galper notes with good-natured humor, ‚who call us the Lost Generation. But I’m not lost, just in in mid-career.‘ That career has been impressive, on his own, with a band in the late 1970s which included the Brecker Brothers, and in the company of others. Of his three years with Cannonball Adderley, the pianist says, ‚I got to play with a straight-ahead rhythm section and, for me, that was intense. Then with Chet Baker, I learned drama and restraint.‘ Of course, the pianist’s best known sideman role came during his decade-long stay with alto saxophonist Phil Woods. A stay in which he fine-tuned his acoustic ears.“ (Aus den Liner Notes von Norman Provizer.)

Am 16. August 1994 (also wieder bloss an einem Tag) wurde im RSI Studio in Lugano das zweite Album des Hal Galper Trios mit Jerry Bergonzi aufgenommen, dieses Mal vor Publikum. Es gibt sechs Stücke, nicht ganz eine Stunde, mit Jerry Bergonzi (ts), Hal Galper (p), Jeff Johnson (b) und Steve Ellington (d) – der einzige Wechsel fand also am Bass statt, Johnson stiess zu Beginn des Jahres zum Trio, dem Ellington zum Zeitpunkt der Aufnahme schon seit dreissig Jahren angehörte. Auch Johnson scheint eine treue Seele zu sein, ist er doch auf dem starken Album Galpers von 2019, „The Zone: Live at the Yardbird Suite“ immer noch Teil des Trios (am Schlagzeug ist seit 2011 oder so John Bishop dabei, Steve Ellington starb 2013).

Wie das erste Album bietet auch dieses hier starken Postbop, die Kontraste zwischen Galpers recht luftigem Klavier und dem schweren Tenorsax von Bergonzi sind attraktiv. Los geht es mit einer denkbar uninspirierteren Wahl, nämlich mit „All the Things You Are“ – doch das Arrangement ist ziemlich super und das lange Stück auch. „Laura“ und „It’s Magic“ folgen, letzteres eine tolle Ballade im Trio. Dann groovt die Band sich durch Monks „Jackie-ing“ mit einem eigenen Intro und einem überzeugenden langen Klaviersolo, das überhaupt nicht nach Monk klingt, aber doch sehr gut zu diesem Stück passt. Es folgt „A Ghost of a Chance“ in einer verführerischen Bossa-Version, wieder ohne Bergonzi, und hier zeigt das Trio sehr schön, wie gut es eingespielt ist. Zum Abschluss folgt dann Duke Ellingtons „Take the Coltrane“, mit Bergonzi im Thema, aber die Soli kommen von Galper und Johnson.

Ein Detail: Die zwei Alben von Galper/Bergonzi tragen den Vermerk „In the US licensed to Koch International L.P.“ – was das genau bedeutet, ist mir nicht klar, ich kann jedenfalls keine Koch-Ausgaben der Alben finden (bei Discogs gibt es jeweils nur einen Eintrag für die deutsche CD-Ausgabe und im Fall von „Rebop“ noch einen für ein japanisches Reissue).

Fred Hersch – Point in Time | Der Pianist Fred Hersch kriegte drei Tage im Systems Two in Brooklyn (Mike Marciano) für sein Enja-Album. Zehn Stücke sind drauf, fünf im Trio mit Drew Gress (p) und Tom Rainey (d), drei weitere im Quintett mit zusätzlich Dave Douglas (t) und Rich Perry (ts) sowie je ein Quartettstück mit den beiden. Produziert haben Hersch und Winckelmann gemeinsam, und W. Patrick Hinely sagt zu letzterem: „The sixth member here is co-producer Matthias Winckelmann, a master of the low-key approach, whose intervention was to suggest the Jimmy Rowles tune at precisely the right moment.“

Ich habe dieses Album entdeckt, als ich mich vor ein paar Jahren mal in die Musik von Hersch vertiefte (das hat pandemiebezogene Gründe, denn in den ersten Monaten streamte Hersch oft kurze Videos aus einer New Yorker-Wohnung, in denen er daheim am Flügel einen Song spielte – was dann der Auslöser fürs Vertiefen war und vor fast genau einem Jahr auch in einen Konzertbesuch beim Klavierfestival in Luzern führte, zu dem Igor Levit Hersch einlud). Ohne diesen Kontext finde ich gerade einen anderen Zugang, und der tut diesem Album gut. Hersch hat ja als Leader eher im Trio aufgenommen als mit Bläsern, aber die beiden hier sind schon im Titelstück von Hersch, mit dem das Album auch losgeht, gut. Das Trio spielt danach „You Don’t Know What Love Is“ mit attraktiven vermeintlichen Be- und Entschleunigungen Herschs im Thema und „As Long as There’s Music“ über einen tollen Latin-Groove. Für „Spring Is Here“, den ersten Song der ersten Session, sind die Bläser zurück.

Dann folgen der schon erwähnte Song von Jimmie Rowles, „The Peacocks“ und Wayne Shorters „Infant Eyes“ im Quintett – zwei Highlights. Im Rowles-Stück spielt Hersch lange unbegleitet, bevor Gress und Rainey dazustossen. Shorters Stück öffnet mit Improvisationen von Hersch und Gress, bevor Rich Perry im Duett mit dem Kontrabass das Thema präsentiert. Bevor Perry soliert, hören wir nochmal Gress und Hersch. Erst dann ist der Saxophonist an der Reihe, der leider auch in Jazzkreisen kaum mehr als ein Geheimtipp ist (ich hörte ihn im November 2005 live, als er bei einer Enja-Nacht in Zürich – vermutlich ein verfrühte Feier zum 35. Geburtstag? – mit der Band von Maria Schneider auftrat, Teil 2 war dann die Band von Dhafer Youssef mit Markus Stockhausen, Dieter Ilg und Jojo Mayer).

„Cat’s Paws“ von Hersch ist dann das letzte Trio-Stück. Den Abschluss machen dann zwei weitere Hersch Originals, „Too Soon“ im Quartett mit Douglas, der sich als Lyriker beweisen kann, und der altmodische funky „Drew’s Blues“ (Quintett), die eine Monks „Evidence“ (Quintett) einrahmen, die hier zum treibenden Romp wird. Hersch nutzt die Chance, die ihm Enja bietet und präsentiert sich in toller Verfassung, mal zupackend, mal nachdenklich und lyrisch. Die Bläser bieten die Chance zu einem abwechslungsreichen Album und wissen sich beide auch selbst zu behaupten. Dieses Album hat heute bei mir deutlich gewonnen.

Eddie Harris – Dancing By a Rainbow | Der Bogen hier schliesst mit Eddie Harris, zu dessen Band auch hier wieder Ronald Muldrow an der Gitarre gehört. Bei den Sessions vom 3. und 4. April 1995 in den Münchner Trixi Studios waren auch Nolan Smith (t/flh), Jeff Chambers (b) und Gaylord Birch (d) dabei. Das Album kommt wie die von Muldrow und Harris‘ „Listen Here“ aus der Weber’schen Küche („There Was a Time“, die AlfaJazz-Produktion, landete bei Winckelmann), wobei Weber wieder als *E. Producer“ und Aldinger als „Producer“ geführt werden.

Hier gibt es nach „Mean Greens“ zum Auftakt weniger bekannte Stücke, auch wenn ein paar von ihnen von früheren Alben bekannt sind („Boogie Woogie Bossa Nova“ von „Free Speech“, „Set Us Free“ von „Second Movement“ mit Les McCann), Harris spielt Tenorsax und Piano, singt ein wenig – das ist in der Anlage also einfacher als das Funk Project-Album, aber nichts hier fesselt mich auch nur annähernd so. Und Muldrow klingt leider manchmal so, als spiele er hinter einem dicken Vorhang oder aus dem Nebenraum, während die Bassgitarre von Chambers und die Drums von Birch sehr präsent sind.

Nolan Smith, der sich jetzt Nolan Shaheed nennt, hat als Studiomusiker aus L.A. ziemlich krasse Credits. Fixe Gigs ware u.a. Marvin Gaye, Count Basie, Natalie Cole, Stevie Wonder, Diana Ross, Phil Collins und Anita Baker, aufgenommen hat er zudem mit allen von Jimmy Smith, Les McCann oder Freddie Hubbard über John Mayall und Bobby Blue Bland bis zu Herb Alpert, Yanni oder Claude Nougaro … die Eboni Band nicht zu vergessen. Ein paar Jahre vor diesem Album mit Harris taucht er auf „Mississippi Lad“ von Teddy Edwards auf, dem Gitanes-Album mit Art Hillery, Leroy Vinnegar, Billy Higgins, ein paar Bläsern und dem Gast Tom Waits. Auch dort liefert er, und das tut er hier durchaus.

Aber mein Fazit ändert sich bei diesem Album heute leider nicht: das ist alles irgendwie lauwarm, weder die Band noch Harris selbst heben hier je richtig ab. (Unten das Originalcover, nehme ich an – meine Japan-CD kommt mit dem obigen, das es auch davor schon gab.)

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