Antwort auf: Enja Records

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Arthur Blythe – Retroflection | Village Vanguard, New York, 25. und 26. Juni 1993, David Baker ist zur Stelle, um das Quartett aufzunehmen: Arthur Blythe (as), John Hicks (p), Cecil McBee (b) und Bobby Battle (d). Auf diesem ersten von zwei Alben dieser Aufnahmen gibt es sieben meist länger Stücke, darunter „Lenox Avenue Breakdown“ oder „Light Blue“. Neu sind hier wohl bloss die ersten beiden Stücke. Den Opener „Jana’s Delight“ höre ich tatsächlich auch gleich als ein erstes Highlight. Die CD vermittelt eine tolle Atmosphäre, der Sound dieser Band ist klasse: dunkel, warm, sehr reichhaltig in jeder Hinsicht: Blythes singendes Saxophon, ein unglaublich reiches Piano, ein resonanter Bass, relativ trockene Drums, die aber in Sachen Fills und Variationen sehr viel bieten. Das ist keine Lieblingsmusik, auch nicht innerhalb der Diskographie von Blythe, aber ich höre das ab und zu total gerne – die Aufnahme klingt auch um Welten besser als vieles, was Blythe bis dahin eingespielt hat (die ganzen Columbia-Alben, auch das Enja-Debut).

In den Liner Notes von T. Brooks Shepard gibt es eine Spitze gegen die jüngere Generation, die Blythe damals bei Columbia den Rang abgelaufen hat: „Arthur’s artistry does not emanate out of an aloof attitude of contemporary, jive-O/reduct-O jazz iconoclasm. Rather, it reflects his knowledge, his understanding, awareness and sensitivity and commitment to the jazz tradition.“

Direkt Lieblingsmusik ist das nicht – auch nicht meine liebste von Blythe. Aber dieses Album war eins der ersten, das ich von ihm hörte (zusammen mit „Lenox Avenue Breakdown“ und einem auf Savant) und ich mag die Stimmung und den Sound hier schon sehr gerne.

Terumasa Hino / Masahiko Togashi / Masabumi Kikuchi | Dass der Mitschnitt dieses japanischen Trios beim zweiten Yamaha Jazz Festival in Hamamatsu in Japan an meinem 14. Geburtstag keine Enja-Eigenproduktion ist, wird kaum überraschen: das Album erschien in Japan bei Somethin‘ Else (damals Teil von Toshiba-EMI) und zugleich in Deutschland bei Enja. Neben den drei genannten ist auch James Genus am tiefen, dunklen Kontrabass dabei. Die drei Japaner spielten bei diesem Auftritt am 18. April 1993 zum ersten Mal zusammen.

Wenn Hino im Opener „Trial“ (Togashi) nach fast drei Minuten hypnotisch langsamen Grooves einsteigt, liegt der Vergleich zu Miles Davis nicht fern. Und lustigerweise eher zum elektrischen Miles, vielleicht demjenigen, der ein Dutzend Jahre zuvor im Rahmen seines Comebacks auch in Japan aufgetreten ist: reduzierte, vokal flexierte Linien, lange Pausen, der Cry. Toll. Genus, der nicht mit aufs Cover durfte, ist meines Empfindens ein zentraler Faktor für den Erfolg dieser Band. Er sammelt die Fäden auf und hält zusammen, was die Ikonoklasten Kikuchi und Togashi oft nur andeuten. Es gibt Tempowechsel, Richtungswechsel, Sprünge – und sehr viel Luft, Pausen, Freiräume. Und diese irre schöne Stimmung, in den ersten Takten gesetzt, zieht sich durch das ganze Set. An Originals folgen zwei von Hino (Dr. U., The Saphire Way) und ein weiteres von Togashi (Twilight South West), an zweitletztere Stelle – als Set-Closer vielleicht vor einer Zugabe (The Saphire Way – eine bezaubernde Ballade mit langem Piano-Intro) – „Blue Monk“, die einzige Fremdkomposition, in der Kikuchi etwas dichter spielt, phasenweise fast schon konventionell, während Hino die Luft durchschneidet.

The Hal Galper Trio with Jerry Bergonzi – Just Us | Auch hier bestimmt keinen Zeilenkommentar – Systems Two Studio in Brooklyn am 20. September 1993, Jerry Bergonzi (ts), Hal Galper (p), Pat O’Leary (b), Steve Ellington (d). Sieben Stücke sind zu hören, der Opener, zugleich Titelstück, stammt von Galper, es folgen „Unforgettable“ von Irving Gordon, „Moon Glaze“ von Walter Norris, und nach dieser einzigen etwas speziellen Wahl vier weitere Evergreens: „Stablemates“ (Benny Golson), „Bye Bye Blackbird“, „Lover Man“ und „I’ll Never Be the Same“. Bergonzi ist einer dieser Monster-Saxophonisten (wie der etwas ältere Sal Nistico oder die ca. gleichaltrigen George Garzone, Joe Lovano, Dave Liebman, Michael Brecker, Steve Grossman …), der wohl unter Musikern einen besseren Ruf geniesst als beim Publikum. Er lehrt am New England Conservatory in Boston, wird auch „Gonz“ genannt und ist in solchen Straightahead-Settings schon ziemlich stark. Die Band hier hat auch einen besonderen Sound, was viel mit den unberechenbaren Drums von Ellington (manchmal scheint er fast mehr am mitgestalten von Themen und Melodien als am Rhythmus interessiert zu sein), aber auch mit dem äusserst trocken aufgenommen Bass O’Learys zu tun hat – der auch ein gutes Solo in „Unforgettable“ spielt, das sich als eine inspirierte Wahl für so ein Album entpuppt. Galper klingt sehr frisch, sein flinkes Spiel und seine hellen Klangfarben bilden auch einen Gegenpol zum schweren Sax des Gastes, der wiederum auf „Lover Man“ der Herausforderung mehr als gewachsen ist.

Ray Anderson Alligatory Band – Don’t Mow Your Lawn | Vom ernsten Post-Bop zum Fun-Funk-Jazz mit einem Cover, wie es damals auch von den RHCP oder den Beastie Boys nicht schlechter hätte designt werden können (zudem noch so ein 2 x 3-Blatt, das bei wiederholtem Auffalten irgendwann reissen wird …) – keine Ahnung mehr, wann und wo ich diese CD in die Hände gekriegt habe. Aufgenommen wurde das Album vom 23. bis 25. März 1994 im Systems Two in Brooklyn (Mike Marciano), produziert hat Mark Helias (für Winckelmann). Neben dem Leader (tb/lead voc) sind dabei: Lew Soloff (t), Jerome Harris (g/backing voc), Gregory Jones (elb/backing voc), Tommy Campbell (d) und Frank Colón (perc). Der Titeltrack und Opener passt leider heute wieder ganz gut (Lyrics von Jackie Raven und Anderson), wenn es da u.a. heisst „The time has come to blur the property lines“ – oder anders: Das zeigt, dass wir seit dem Hedonismus der Neunziger praktisch auf der Stelle treten.

Dass die hier zu hörende Musik ihrerseits bestens in den hedonistischen Rahmen Neunziger passt, wäre vermutlich ein fieses Urteil im Rückblick – aber Musik ist ja auch immer aus ihrer Zeit. Es gibt dunkle Grooves (Harris/Jones klingen super zusammen!), ungrade Metren (Campbell/Colón auch!), virtuose Soli der Bläser (Soloff/Anderson … ihr wisst schon) – das macht schon immer noch irgendwie Spass, auch wenn es wirklich nicht meine Musik ist. Gesungen (inkl. Sprechgesang-Einlagen) wird auf vier der neun Stücke. Auf den Opener folgt der ungrade Beat vom instrumentalen „Diddleybop“. „Damaged But Good“ ist dann eine Art Update eines alten Blues mit Doo-Wop-Chor (die Zeile „this planet is damaged / my body is too“ knüpft aber auch an den Opener an), aus dem sich dann die Growl-Posaune allmählich in die Höhe schraubt. „What’cha Gonna Do with That“ (natürlich gibt es hier ein karibisch-kubanisch angehauchtes Trompetensolo mit ein paar perfekt ausgeführten Shakes) nach dem funky Instrumental „Alligatory Pecadillo“ ist eine Art satirischer Calypso, wieder mit Chorgesang hinter Andersons Lead. Auf das lange instrumentale „Airwaves“ folgt mit „Blow Your Horn“ die letzte Gesangsnummer, in der die Band so stark wie selten als Einheit glänzt – instrumental wie im langen vokalen Ende. Zum Abschluss gibt es dann noch den Second-Line-Funk von „Disguise the Limit“. Ausser den Lyrics von „Damaged But Good“, die Raven allein schrieb, war Anderson stets beteiligt und hat die Musik zu allen neun Tracks komponiert.

Arthur Blythe – Calling Card | Ich ziehe zum Abschluss dieses Posts mal noch dieses Album vor, das erst ein paar Katalognummern später (ca. Ende 1995), mitten in den 9000ern, erschien, aber vom selben Auftritt im Village Vanguard stammt, wie das Album, mit dem es oben losgeht: Arthur Blythe (as), John Hicks (p), Cecil McBee (b) und Bobby Battle (d) im Village Vanguard, New York, dieses Mal nur vom zweiten Tag, dem 26. Juni 1993, und ein Stück sowie über zehn Minuten länger. Blythes Opener „As of Yet“ setzt sofort wieder eine phantastische Stimmung, es fühlt sich wirklich fast an, als würde man ganz vorn im Club sitzen und die Musik hautnah miterleben (David Baker – ein Klangbild, das ich viel lieber mag als das der Brüder Joe und Mike Marciano). „Blue Blues“ ist genau das: ein langsamer Blues, danach folgen „Naima’s Love Song“ von John Hicks und „Hip Dripper“. In der zweiten Hälfte die Klassiker „Odessa“ und „Elaborations“ (fast 15 Minuten lang), dann Fats Wallers „Jitterbug Waltz“ und zum Ausklang „Break Tune“ – ausser den Stücken von Hicks und Waller stammt alles Material von Blythe.

Im Gegensatz zum ersten Album habe ich dieses hier erst gekauft, nachdem wir es hier im Rahmen eines BFT mal ausgiebiger von Blythe hatten … und nachdem bei BGO all die Columbia-Alben neu auf CD aufgelegt wurden: Blythe war jemand, von dem ich über Jahre immer wieder etwas nach weiteren erhältlichen Alben geguckt habe. Mir geht es hier andersrum als vorgarten, ich langweile mich bei diesem zweiten Album in der ersten Hälfte ein wenig, wenn es noch einen Blues gibt (und das Cover ist auch nur ein My besser als das von Anderson). In der zweiten Hälfte lausche ich nach dem stimmungsvollen „Odessa“ wieder aufmerksamer zu.

Viel lasse ich an der Stelle nicht aus: Alben von Dusko Goykovich, Maria Schneider, Junior Mance und Abou-Khalil … das Trio-Album von Sunny Murray hörte ich schon vor ein paar Wochen und war nicht begeistert.

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