Antwort auf: Enja Records

#12304929  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,736

Ed Blackwell Project – „What It Is?“ | Nicht konstatierend What It Is wie bei Mal Waldron, sondern mit Fragezeichen dieses Mal – und das passt, denn dieses phänomenale Quartett ist auf der Suche. Graham Haynes (cor), Carlos Ward (as/fl), Mark Helias (b) und Ed Blackwell (d) wurden am 8. August 1992 im Yoshi’s in Oakland live aufgenommen. Fast auf den Tag zwei Monate vor seinem Tod (7. Oktober 1992, geboren wurde er am 10. Oktober 1929) trat Ed Blackwell zum ersten Mal als Leader in Kaliforniern auf – es blieb sein letzter Gig, schon davor hatte er wegen gesundheitlicher Probleme Auftritte absagen müssen. Zum Glück nicht diesen einen beim Eddie Moore Festival in Oakland. Moore war 1990 während eines Gigs gestorben – und er war der Drummer, der bei Dewey Redman einsprang, wenn Blackwell verhindert war – und umgekehrt, denn sie beide spielten regelmässig mit Redman. Die Organisatorin des Festivals, Jessica Felix, traf in der Küche (aka Backstage-Bereich) des Village Vanguard zufällig auf Blackwell und fragte ihn, ob er beim Festival auftreten wolle. „He was very sick […], but he said he had hear about the festival. When I asked if he’d come out, he said, ‚Yeah, for Eddie, I will'“. Das Festival dauerte eine Woche, es spielten u.a. Lester Bowie, George Cables, Tootie Heath oder James Newton, aber Blackwell war der Headliner am Samstagabend. David Rubien beschreib in den Liner Notes (März 1993) die Atmosphäre im Yoshi’s:

So by the time Blackwell approached the bandstand, helped by his manager Kunle Mwanga, the club was hushed. Cocktail glass clanking was minimal and few patrons were smoking. A thick sense of reverence hung over the scene, which seemed to witness the ascension of a saint. The apostels had already been on stage for quite some time, waiting. Carlos Ward, stationed next to his alto saxophone and flute, seemed meditative, lost in concentration. The handsome Mark Helias, looking almost Keroucian [sic], held his bass and gazed inscrutably at the audience. Trumpeter Graham Haynes was nattily dressed and cherubic.

Natürlich stand die Frage im Raum, ob Blackwell überhaupt in der Lage sein würde, zu spielen … doch schon im Opener, „‚Nette“ von Ward, erhebt sich die Musik sofort auf ein anderes Level. Das Quartett hebt ab, versinkt tief im Groove, tiefschwarze weit ausgreifende Bass-Ostinati, suchende Soli mit unglaublichem Charme von Haynes, Wards singendes Saxophon und im dritten Stück, „Beau Regard“ (Helias), dann auch erstmals die Flöte. Das alles grundiert von diesen unverwechselbaren Beats von Blackwell, trommellastig, aufrecht, mit der beeindruckenden Haltung und Körperspannung eines Tänzers, elegant, geschmeidig und immer wieder überraschend, unerwartet, zupackend. Da sind die afrikanisch anmutenden Beats, die Rhythmen der Bands aus New Orleans. Das Drumkit klingt wahnsinnig gut, die Nuancen, die Blackwell hier zustande bringt, sind beeindruckend. „He was delivering proof right in before our eyes of Ornette Coleman’s assertion that melody, rhythm an harmony are one“, schreibt Rubien zutreffend. Wunder über Wunder entfaltet sich. Wards Saxophon in seinem Stück „Pettiford Bridge“, Haynes gestopftes Kornett oder Wards Flöte in „Beau Regard“: das sind allesamt Statements erster Güte, stets perfekt eingebettet von Helias‘ wahnsinnig schön klingendem Bass, der auch im Zusammenspiel mit Blackwell perfekt klingt (der Gedanke an Haden/Blackwell ist nicht weit, Helias/Blackwell klingen für meine Ohren absolut ebenbürtig). Die Band verfügt trotz der kleinen Besetzung über eine vielfältige Klangpalette. Der Sound von Flöte und gestopfter Trompete kommt zum Beispiel direkt nach „Beau Regard“, in „Thumbs Up“ (Helias), erneut zum Einsatz. Aber wenn Blackwell hier seine cowbell einzusetzen beginnt, ist das Gefüge gleich wieder völlig anders. Auch Helias beeindruckt immer wieder, hier mit kreisenden Linien, die er durch stotternde, scheinbar an Ort und Stelle tretende, und mit Blackwell vollkommen verschmelzende Passagen unterbricht. Blackwell spielt hier auch ein wundersames kurzes Solo und steht ihm kurzen „Mallet Song“ (Ward) erneut im Mittelpunkt. Im Closer des Albums, dem zwölfminütigen „Rosa Takes a Stand (For Rosa Parks)“ (Ward) erreicht die Band nochmal ein Plateau. Ward am Sax und Haynes am offenen Horn glänzen – und dann übernimmt Helias für ein beeindruckendes unbegleitetes Solo.

Ed Blackwell Project, Vol. II – „What It Be Like?“ | 1994 legte Enja ein zweites Album mit Musik von dem Abend aus dem Yoshi’s vor – und wenn Rubiens Liner Notes für Vol. 1 suggerieren, dass es sich dabei um ein komplettes Set handelt, so scheint das zu passen und wir kriegen hier noch ein ganzes Set, beide grosszügig bemessen mit über einer Stunde Dauer. Statt Liner Notes findet sich im kargeren Booklet ein Auszug aus der Totenrede, die Stanley Crouch am 3. Dezember 1992 bei der Gedenkveranstaltung in der Saint Peter’s Church in New York hielt. Weil ich das Cover hier bei Amazon holte, weiss ich auch wieder, dass ich die zwei CDs gemeinsam im März 2011 bestellt hatte. Eine der ersten guten Tagen von @vorgarten.

Der Einstieg in „Nebula“ (Helias – siehe Kommentare unten) klingt für meine Ohren so, als könnte das tatsächlich ein Set-Opener sein, etwas trockener noch, luftiger, weniger kondensiert als die Band am Ende von Vol. I klingt („Vol. I“ steht aus Zusatz auf dem Tray und der Rückseite des Booklets, aber nicht auf dem Frontcover). Haynes spielt ein ein langes Solo, zitiert so ab 2:56 länger „If I Should Lose You“, sein Approach ist aber frei und offen, ebenso wie der von Ward, der am Altsax folgt (Haynes begleitet ihn leise) – und dann ist das nächste beeindruckende Bass-Solo von Helias zu hören. Dieser Opener, „Nebula“ (keine Angabe zum Komponisten – eine ASCAP-Suche ist hoffnungslos, es gibt hunderte Treffer), klingt wie eine Art verlangsamte Ornette Coleman-Musik – also ohne die Ornettes Musik oft innewohnenden leichte Nervosität. Von den vier folgenden Stücken stammen drei von Ward. In „Grandma’s Shoes“ bleibt die Stimmung ähnlich entspannt – ich frage mich, falls die zwei CDs wirklich integrale Sets abbilden, ob das hier das erste war? Jedenfalls wirkt die Musik etwas aufgeräumter, gelassener. Das ist zwar auch sehr schön, gibt den Bläsern vielleicht noch mehr Raum zur individuellen Entfaltung – Ward klingt hier wirklich phänomenal und ich glaub ich verstehe schon, wie man angesichts dieser Aufnahmen zum Fazit kommen kann, dass Ibrahims Band für ihn nicht der ideale Rahmen war. Aber den intensiv brennenden Zauber vom ersten Album finde ich bisher nicht. In „Pentahouve“ von Helias greift Ward sich die Flöte und spielt das Thema im Duett mit dem Bass über irr tänzelnde Trommeln von Blackwell (er gibt auf dem Hi-Hat den Beat dazu). Irgendwann kommt das Kornett dazu … das entwickelt einen starken Sog, wie ein sich um die eigene Achse drehender Derwisch. In „First Love (For Thelonious Monk)“ ist die Ruhe zurück – mit den liegenden Tönen der Bläser über den leichten Beat von Blackwell (mit starkem Hi-Hat-Einsatz) erinnert das fast ein wenig an die zwei „mood pieces“ von Porter/Praskin mit Nistico – aber hier herrscht ein völlig anderer Geist. Haynes glänzt nach dem klagenden Thema am Kornett. Die pièce de résistance folgt allerdings noch: 28 Minuten dauert das dreiteilige „Lito“, im mittleren Teil ist Don Cherry als Gast dabei. Nach dem Rubato-Intro (toll der gestrichene Bass von Helias) setzt Blackwell nach gut zwei Minuten einen mitreissenden Groove auf. Helias dreht sich konstant im Kreis, Blackwells Spiel ist von einer beeindruckenden Abwechslung und einmal mehr ist da diese Mischung aus Klangfarben und Rhythmen, die vollkommen bestechend wirkt. Ward ist nach dem ersten Solo von Haynes an der Flöte zu hören – und ist an dem Instrument so phantastisch gut wie nur wenige Jazzflötisten. Don Cherrys Auftritt wird zum Art Pas de deux mit dem alten Kollegen am Schlagzeug, während Helias rifft. Die Trompete verdichtet bis zur Atemlosigkeit – und atemberaubend ist das auch zum Anhören. Und dann übernimmt Ward für einen weiteren tollen Flug am Altsax. Seine Phrasierung klingt oft wie gesprochen, sein Ton erreicht ein Volumen und eine Sonorität, dass es oft fast wie ein Tenorsaxophon klingt – und Blackwell setzt hinter ihm wieder die cowbell ein, bevor er selbst ein tolles letzten Solo spielt (wo hier Part III beginnen soll, ist mir unklar). Repeat, diese 28 muss ich gleich nochmal anhören! (Es sind genau genommen etwas mehr als 26, danach langer Applaus … also ziemlich sicher auch das Ende eines Sets.)

Vol. I dürfte es in meine Top 10 schaffen, Vol. II gehört aber definitiv auch in den erweiterten Favoriten-Kreis.

Nachtrag mit einer Korrektur von @vogarten – ich habe die Trompetensolisten im letzten Stück von Vol. II verwechselt:

mir fällt gerade auf, dass du in „lito“ cherry und haynes verwechselt hast. das erste solo direkt nach dem rubato-thema ist von cherry (man kann den weg vom publikum auf die bühne im übergang von p.1 und 2 live mitverfolgen), dann kommt ward an der flöte, dann kommt pat. 3 mit dem grandiosen (angestachelten?) solo von haynes, dem altsax-solo von ward und dem abschließenden von blackwell. ich verstehe aber schon, warum du das so gehört hast, haynes‘ solo ist wirklich sehr ungewöhnlich.

von hier:
https://forum.rollingstone.de/foren/topic/enja-records/page/32/#post-12306035

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #156 – Benny Golson (1929–2024) – 29.10.2024 – 22:00 / #157 – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba