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Max Roach – To the Max! | Klar, wenn man Roach gewinnen konnte, musste es für ein besonderes Projekt sein. 1984 hatte Enja ein Konzert von 1960 unter dem Titel „Long As You’re Living“ veröffentlicht, 1990 eine um zehn Minuten erweiterte CD-Ausgabe davon. 1992 folgte dann eine neue Produktion mit Roach, ein Doppelalbum mit zweimal um die 50 Minuten Spielzeit und unter Mitwirkung des Quartetts (Cecil Bridgewater-t, Odean Pope-ts, Tyrone Brown-b, Max Roach-d), des Uptown String Quartet (Diane Monroe und Lesa Terry-v, Maxine Roach-vla, Eileen Folson-vc), von M’Boom (Roy Brooks, Joe Chambers, Omar Clay, Eli Fountain, Fred King, Ray Mantilla, Francisco Mora, Max Roach, Warren Smith-perc) und des Max Roach Chorus and Orchestra (das Quartett plus die John Motley Singers: fünf Sopranistinnen, zwei Altistinnen, drei Tenöre und vier Bässe, dazu Ronnell Bey als Solistin und George Cables als Pianist). Die Aufnahmen entstanden über sechs Sessions verteilt: Drum-Solos aus Paris vom 15. September 1990 (Rev’O Jazz), das Quartett am 30. November 1990 (Marquee at the Tralf, Buffalo, NY) und 29. April 1991 (The Iron Horse, Northampton, MA), und dann (M’Boom, Chor/Orchester, Doppelquartett und Quartett) bei drei Sessions im Juni in New York: 15. (Chorus & Orchestra in den Clinton Recording Studios), 24. (M’Boom im Master Sound Astoria) und 25. (Doppelquartett und Quartett in der Power Station). Eine richtig grosse Kiste also, die vielleicht etwas Skepsis hervorrufen mag, aber für meine Ohren als eine Art Karriererückblick sehr gut funktioniert und besonders im dreiteiligen, halbstündigen Opener „Ghost Dance“ dem bisherigen Schaffen auch noch etwas neues hinzufügt, in dem Teile 1 und 3 vom Chorus & Orchestra (Roach-Quartett und Chor mit Cables) und Teil 2 von M’Boom kommen. Bei ca. 24:24 in meiner CD-Ausgabe, zwischen Teilen 2 und 3 ist auch noch die Aufnahmen einer Atomexplosion eingestreut („may cause damage to your hearing or your playback speaker if played too loud“, steht im Booklet). Die Vokalsolistin, Ronnell Bey, gehört natürlich zur Bey-Familie und trat in einem Stück auf, für das Roach die Musik geschrieben hatte – so lernte Roach sie kennen. Das ist alles sehr elegant, wie Herb Wong in den Liner Notes festhält, aber auch druckvoll, beeindruckend in der Vielfalt und in der Bestimmtheit, die in dieser Musik steckt. Und ein Streichquartett aus vier Afro-Amerikanerinnen, zwei davon mit Afros (die anderen zwei eigentlich auch, einfach kurz geschnitten), war 1991 wohl noch eine sehr deutlichere Ansage – ist aber auch heute noch die ganz grosse Ausnahme.
Nach dem langen Opener gibt es „A Quiet Place“ von M’Boom mit Marimbas und Steel Drums und dazu leise Wood Blocks, Triangel usw. – eine Art Minimal-Jazz als Überleitung vom „Ghost Dance“ zum Quartett, das mit „The Profit“ und „Tears“ (beide von Roach) folgt, bevor Teil 1 mit einem ersten Schlagzeugsolo, Roachs „Self Portrait“, endet. Das Quartett war zu dem Zeitpunkt längst eine etablierte, perfekt abgestimmte Band, in der Roach sich als Begleiter sehr viel Raum nehmen kann, ohne die Bläser zu stören. Cecil Bridgewater und Odean Pope trugen beide schon starke Soli zu „Ghost Dance“ bei, das kurze „The Profit“ gehört dem Trompeter, in „Tears“ setzt Brown einen 5/4-Groove, über den die Bläser das klagende Thema aus langen Tönen spielen und dann gemeinsam zu improvisieren anfangen. Doch dann ist Pope an der Reihe und spielt ein tolles Solo mit kantigem Ton und immer wieder längeren Pausen zwischen den einzelnen Phrasen. Roach ist auch hier sehr aktiv, kommentiert und punktiert.
Teil zwei ist ähnlich aufgebaut: ein langes Stück, hier mit dem Doppelquartett, eine Überleitung mit M’Boom, zweimal das Quartett und dann zum Abschluss noch ein Roach-Solo. Beim 21minütigen „A Little Booker“ ist der Widmungsträger klar – Bridgewater stellt über den dichten Streichern, dem rasenden Bass von Brown und Roachs tollen Drums das bittersüsse Thema vor, das mehr als ein wenig an an Booker Litte erinnert. Das erste Solo kriegt dann aber Pope, danach wechseln sich die Bläser ab, während das Streichquartett immer wieder Riffs einstreut und Roach einen irre dahinfliegenden Beat spielt, mit Verdichtungen und Akzenten. Irgendwann sind die Bläser zusammen im vollen Flug, die Streicher pausieren, bis eine Bass/Drums-Passage zu ihrem Teil überleitet: eine vermutlich nur teils arrangierte Passage, in der ein dichtes Gewebe an Linien entsteht, während Brown solide weiterwalkt und Roach sich nur in der Lautstärke, nicht in der Dichte seines Spiels zurücknimmt – Dynamik sei eine von jüngeren Musikern oft vernachlässigte Kunst, meint Lovano in den Liner Notes seines Enja-Albums, und was Roach hier macht, ist ein perfektes Beispiel, wie die Alten das im Griff haben. Danach gibt’s Roachs Solo, während dem Brown weiter Walking-Bass-Linien beisteuert … diese prägen das Geschehen, sorgen aber auch für einen gewisse Monotonie, weil sie echt nie aufhören.
M’Boom steuert dann einen laid-back Groove-Blues bei, der Fokus Trommeln, dazu leise Vibraphon-, Marimba- und Steel Drum-Souns. Die melodischen Parts wachsen in kleine Soli aus, die sich aber stets ins Ganze einfügen – der letzte Beitrag klingt wie eine Mischung aus singender Säge (eine Spezialität von Brooks) und Berimbau. Das Quartett gibt dann in einer kurzen Version von Oscar Pettifords „Tricotism“ auch Tyrone Brown mal einen Spot. Wie üblich in Roachs Bands (zumindest nach Art Davis‘ Weggang) spielt er ca. die siebte Geige und überzeugt mich hier auch nicht so recht. Sein Bass klingt nicht gut (aber auf all den Sessions hier ähnlich, also wohl genau, wie er klingen sollte), seine Ideen sind auch nicht grad die brillantesten … aber sein Job war es ja auch, bei all den Ausflügen des Leaders solide Time zu liefen, wie das vor ihm u.a. George Morrow (vor Davis) oder Bob Boswell (in der Band mit den Turrentines, die auf dem erwähnten anderen Enja-Album zu hören ist) getan haben. Davis oder auch Boswells Nachfolger Jymie Merritt waren auf je eigene Weise flexiblere Musiker, Brown nehme ich als sachdienlich wahr. Das Quartett spielt danach Popes „Mwalimu“, sechzehneinhalb Minuten lang und mit einem kreisenden Bass-Riff, das Brown mit Gusto spielt. Ich finde Roachs Musik meist gar nicht sexy – sie hat andere Stärken und nicht wenige davon – aber hier kommt das schon hin, auch sein Beat über das Bass-Riff, wie sie dem Komponisten am Sax hier den Teppich ausrollen … das ist toll! Und nach Pope spielt Brown hier auch ein viel besseres – ja richtig gutes – Solo, von Roach an Besen begleitet. Danach ist Bridgewater dran, und der entspannte Groove tut auch ihm richtig gut: für einmal kein dichtes Hochdrucksolo sondern entspannter, atmender. Und dann natürlich Roach – überraschend für einmal ohne den Bass. Eine richtig tolle Performance, finde ich! Dann nochmal Roach solo, „Drums Unlimited“ – auch das super.
Unterm Strich ist das ein richtig starkes Doppelalbum, an das ich viel zu selten denke, obwohl es schon sehr lange (schätze ca. 1997/8) hier ist. Die Favoriten sind ja in diesen Region des Katalogs eh dünn gesät … dazu gehört das auch nicht, aber in den erweiterten Kreis schon (erste Listenanläufe weisen auf eine entstehende Top 50 hin – mal schauen ob ich so viele Alben in eine Reihenfolge kriegen mag … sowas macht ja auch die Absurdität solcher Unterfangen deutlich).
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #165: Johnny Dyani (1945–1986) - 9.9., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba