Antwort auf: Enja Records

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Ed Schuller & Band – The Eleventh Hour | Wenn ich es richtig sehe, ist das Schullers eigentliches Leader-Debut (nach einem Duo-Alben als Co-Leader und ein paar ähnlichen Veröffentlichungen mit mehreren Namen auf dem Cover). Am 21. und 22. Februar 1991 in den Water Music Studios in Hoboken, NJ für Tutu aufgenommen mit Greg Osby (as/ss), Gary Valente (tb), Bill Bickfoerd (g), Schuller (b), Victor Jones (d) und auf ein paar Stücken Arto Tuncboyaci (perc/voc). Das ist eins der Alben, die ich neulich nachgekauft habe, kleine Enja/related-Bestellung bei Discogs und das sah irgendwie gut aus, fand ich. Dass Schuller mir generell gefällt, sein Album „Mu-Point“ schon länger hier ist, hatte ich ja geschrieben (und das Album auch vor Beginn des katalognummernchronologischen Hörens wieder mal angehört, klick).

Den Liner Notes des inzwischen (rel. 1992) auf 12 Seiten angewachsenen Booklets kann man auch entnehmen, dass Ornette Coleman als Babysitter von Schuller (geboren am 11. Januar 1955) gewirkt hat: „Ornette was a the time not so well known and barely had enough jobs. So he made himself useful as a babysitter for my parents“ (Schuller-Zitat im Wiessmüller-Text – warum schreibt sich Wiessmüller eigentlich nicht mit Scharf-S?).

Nach dem energetischen Opener folgt das atmosphärische Titelstück in zwei Teilen, zusammen fast eine Viertelstunde lang – hier ist Tuncboyaci dabei, Bickford (der davor u.a. bei Defunkt spielte) spielt statt einer harten Gitarre zwischen Scofield und Frisell sphärische Töne und Akkorde und erst nach mehreren Minuten fällt die Band in einen festen Beat. Wenn ich Osby in diesem eher ungewöhnlichen Kontext höre, frage ich mich zwischendurch mal kurz, ob der Saxer, den ich hier eher erwarten würde, Arthur Blythe, nicht einen gewissen Einfluss auf seinen Ton hatte? (Keine Verbindung, die ich bisher je gemacht hätte.) In „PM in the AM“ („Paul Motian in the morning […] would generally be very energetic, while the rest of the band would still be recovering from the night before!“) ist dann vielleicht ein Ornette-Coleman-Einfluss zu hören – jedenfalls ist Osby hier stark. In „Love Lite“ ist er dann am Sopransax zu hören – sehr schöner Ton!

Die flamboyante Posaune von Gary Valente ist neben Osby und Bickford die dritte prägnante Stimme hier – mir sonst v.a. von der Carla Bley Band bekannt. Er klingt manchmal so, dass ich Angst kriege, sein Hals oder Kopf platze gleich … aber Spass macht sein Spiel fast immer, sehr vokal, nicht auf Schönklang aus sondern überbordend mit Ideen und Power. Von Valente stammt das einzige der Stücke, das nicht der Leader komponiert hat, „Keeping Still/Mountain“ (neben der zweiteiligen Titelnummer das andere Stück mit Tuncboyaci, der hier auch ohne Text singt), ein 15/8-Stück, das manchmal in 5/4 wechselt und in dem Ende die Bläser in 6 über die 15/8 spielen, um am Ende wieder mit der Rhythmusgruppe zusammenzufinden – wie Schuller im Booklet zitiert wird, sonst hätte ich das bestimmt nicht durchschaut. Hier sind die Bläser im Dialog zu hören über dem dichten Groove der Band – und wenn das vielleicht auch irgendwie „schwierige“ Musik ist und ich dabei ans Previte-Album denke, so scheint mir, dass es Schullers Band nie darum geht, „mavericks“ zu sein, was ich bei Previte nicht glauben mag.

Dass das hier eine Bassisten-Band oder -Scheibe ist, würde ich vom ersten Eindruck her blind vermutlich nicht erraten haben. Dass die Musik zumindest teils stark um den Bass herum aufgebaut ist, wird aber bei genauerem Hinhören schon manchmal klar, zum Beispiel im langen zweitletzten Stück „Shamal“, das eine tolle Stimmung aufbaut. Im kürzeren Closer „For Dodo“ wird es dann doch noch deutlich, handelt es sich doch um eine Konzert für Kontrabässe. Im Overdub-Verfahren hat Schuller hier mehrere Spuren aufgenommen, die sich nach zwei Minuten allmählich aufzuschichten anfangen. Und was soll ich sagen: Wenn das Album so um 1994 oder 1995 bei uns die Runde gemacht hätte, hätte mir das sicherlich sehr viel besser gefallen, als die Bass-Schichtungen von Stanley Clarke (elektrisch) und John Pattitucci (elektrisch und akustisch), die uns in die Hände gefallen sind.

Das Album ist zwölfte von TUTU, ich habe Nr. 10 (Dannie Richmond, „Three Or Four Shades of Dannie Richmond Quintet“, live beim Jazzfestival Münster 1981 mit Jack Walrath, Kenny Garrett, Bob Neloms und Cameron Brown) ausgelassen – zwangsläufig, weil ich die CD gerade nicht finden kann. Gekauft habe ich die aber noch nicht lange und auch kurz bevor wir hier mit Enja anfingen wieder mal angehört. Sonst noch da aus der Enja-Phase von Tutu sind nur noch zwei: „Black Sea“ von der Nicolas Simion Group (1992 – mit Graham Haynes, die Empfehlung kam von @vorgarten, glaube ich? Top-Album!) und „Land Whales in New York“ vom Gordon Lee Quartet (1992), das 1990 schon anderswo herauskam und daher als Reissue auch ausscheidet (es handelt sich um eine Aufnahme von 1982 mit Jim Pepper, Calvin Hill und Bob Moses).

Arthur Blythe – Hipmotism | Blythe habe ich nach einem Forumsereignis (ein BFT, sein Tod, beides?) in Etapen und bei sich bietender Gelegenheit fortlaufend vertieft und einiges nachgekauft, darunter auch dieses erste Album, das er für Enja machte, vom 15. bis 17. März 1991 im Systems Two Studio in Brooklyn aufgenommen und von Blythe selbst produziert. Hamiet Bluiett wird in den Credits als „special guest with the Arthur Blythe Ensemble“ angepriesen, aber neben dem tollen Altsax des Leaders ist im Opener erstmal die Ethno-Schiene zu hören: Gust William Tisils (mar) und Arto Tuncboyaci (perc) sind dabei. Im folgenden „Dance Benita Dance“ kommt dann Jazzband dazu: Kelvyn Bell (g), Bob Stewart (tuba) und Don Moye (d), während Tsilis pausiert. Das ist Musik von enormer Wärme, was mit dem Sax des Leaders zu tun hat, aber auch mit den Klang den Akkorden, die Bell einstreut (Bickford klingt eiskalt im Vergleich) und noch mehr mit der wunderbar resonant aufgenommenen Tuba von Bob Stewart, einem von Blythes wichtigsten Mistreitern. Im folgenden „Cousin Sidney“, einem einfachen Riff-Tune, ist dann die Jazzband für sich: Blythe, Bell, Stewart, Moye. Hier sielt Bell dann nach dem Leader ein recht eigenwilliges aber tolles Solo – während Stewart/Moye eine Art funky New Orleans-Beat spielen. „Shadows“ ist eine ziemlich wilde Band-Performance (die Gitarre fehlt gemäss Cover, ist aber im Hintergrund klar zu hören), bis Tsilis mit einem tollen Vibraphonsolo übernimmt und Stewart/Moye/Tuncboyaci in etwas ruhigere Fahrwasser finden.

Im Titelstück, das in der Mitte der neun Tracks steht, taucht dann der Gast Hamiett Bluiett mit seinem Baritonsaxophon zum ersten Mal auf. Die ganze Band, jetzt also zu siebent, groovt passend in … sieben. Das ist super, wieder diese Wärme, ich bild mir irgendwie auch Licht ein beim Hören dieser Musik (so klar hörte ich das alles bei Blythe erstmals in „Down Home“, dem Joey Baron-Album mit Blythe, Bill Frisell und Ron Carter und irgendwie hab ich seither recht klare, natürlich nicht in Worte übersetzbare Vorstellungen von Blythe). Aus dem Groove schälen sich kurz einzelne Stimmen heraus, finden immer wieder zurück, auch Blythe rifft mit – wieder Ensemblemusik eigentlich, und doch fehlt da nichts, auch wenn es eigentlich sechs Minuten lang nur einen wiederholten Takt zu hören gibt, der durch rudimentäre Blues-Changes geschoben wird (ich glaub nur eine achttaktige Form).

In „Miss Eugie“ mit Percussion-Einleitung von Tuncboyaci gibt es ein Trio mit Blythe und Stewart. Eine unregelmässige Kippfigur von der Tuba, darüber Melodiefetzen vom Sax, Beckenschläge, Trommelwirbel, kurze Vokaleinlagen von Tuncboyaci. Das ist natürlich auch, was man damals „World Music“ nannte. Arto Tunçboyacıyan ist die Schreibweise im Wiki-Eintrag; ich hatte ihn mir in den späten 90ern im Radio als „Arto Tuncboyacian“ gemerkt, also in der lateinischen Transkription, dass die letzte Silbe meistens weggelassen wird, merkte ich erst viel später – ich glaub, das war damals auch ein Mitschnitt einer Band von Blythe, aus dem ein paar Auszüge gesendet wurden, Tsilis war jedenfalls auch dabei, die zwei gehören für mich daher irgendwie zusammen. Jedenfalls kam Tunçboyacıyan 1957 in Istanbul als Angehöriger der armenischen Minderheit zur Welt, die englische Wiki nennt ihn einen „Armenian-American“, es heisst da jedenfalls, dass er 1981 in die USA gezogen sei). Das Stück im Trio ist im Nu vorbei, obwohl es vier Minuten dauert – diese Musik hat etwas durchaus Hypnotisches.

In „Matter of Fact“ geht es nach kurzer Zeit schon im einleitenden Sax-Duo deutlich ruppiger zu und her. Nach drei Minuten kündet Moye mit einem Roll den Einstieg der Band an, die hier wie auch im folgenden „Bush Baby“ in voller Stärke aufspielt: gequälte Gitarrenkreischer, Marimba-Fills, ein paar Töne der Tuba, Handtrommeln und Drums vermischen sich zu einer freien Collage, in die auch mal ein wuchtiges Barisax-Riff einbricht. In „Bush Baby“ sind dann die Riffs zurück. Tuba und Drum-Section setzten den Groove, die anderen spielen weitere Riffs dazu und pausieren wieder, während Bells Gitarre immer wieder irgendwie frei dazwischen zu schweben scheint. Irgendwann hebt Blythe darüber ab, es gibt Verdichtungen, Beschleunigungen, nach dem Solo wieder ein gemeinsames Riff, aus dem dann Bells Gitarre entsteigt, umspielt von Tsilis‘ Marimba. Schade höchstens, dass Bluiett hier nicht nochmal richtig zum Zug kommt, denn danach folgt schon der Closer, „My Son Ra“, ein dreiminütiges Solo von Blythe, das seinen wahnsinnig schönen Ton und seine ebenso perfekte Delivery nochmal deutlich hörbar macht.

Das ist kein Album, das ich alle Tage hören könnte – aber ich find’s dennoch sehr toll. Allein schon wegen all der Sounds, die es hier gibt. Wie Blythe in seiner Musik (die neun Stücke stammen alle von ihm) eine völlig offene Traditionspflege bewerkstelligt, dabei ganz vieles miteinbezieht, was eben nicht aus der Tradition stammt … und so etwas Neues schafft, ist schon ziemlich einzigartig. Ich wünschte mir, das wäre die massgebliche Schiene im Jazz der 80er und 90er gewesen, nicht der hip unterkühlte (oder à la New Orleans künstlich exaltierte) Hard Bop und Post Bop, der in der Zeit so erfolgreich war.

Damit bin ich mit den 6000er-Katalognummern durch. Ausgelassen habe ich:

6028 – Hampton Hawes – Live at the Showcase, Chicago Vol. 2 (rec. 1973)
6062 – Aki Takase – Shima Shoka
6090 – Rabih Abou-Khalil – Al-Jadida
6096 – Maria João, Aki Takase and Niels Pedersen – Alice

Nummer 6090 ist eine wichtige Etappe: das erste Enja-Album von Rabih Abou-Khalil, der in der Folge zum wichtigen Exponenten des Labels wurde und dessen frühere Alben für MMP (aber nicht das eine für ECM) von Enja später übernommen wurden („Between Dusk and Dawn“, 9371; „Bukra“, 9372; „Roots and Sprouts“, 9373 – das dritte fehlt mir noch, beim ersten ist auch Charlie Mariano ein Kaufgrund, der später auch auf weiteren Enja-Produktion von Abou-Khalil wieder dabei war).

Ich habe längst beschlossen Abou-Khalil wegzulassen … aus Zeitgründen, aber auch, weil er eh nicht ganz vorn mitspielen wird. Und auch, weil ich seit längerem vor habe, seine Sachen mal vertieft zu hören (acht der Alben auf Enja sind da inkl. der zwei auf MMP, dazu seit der ECM-Strecke hier auch sein eines ECM-Album).

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