Antwort auf: Enja Records

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Eddie Harris Quartet – There Was A Time – Echo Of Harlem | Und dann ist noch ein Lieblingsalbum seit den 90ern dran. Eddie Harris wurde mir erst kurz nach seinem Tod im November 1996 von verschiedener Seite nahegelegt. Zwei Enja-Alben schlugen massiv ein, das hier war das zweite, ist aber früher entstanden, am 9. Mai 1990 im Edison Studio in New York (Jim Anderson) – produziert hat es Todd Barkan, im Auftrag von Makoto Kimata von Alfa Records, das das Album 1990 in Japan herausbrachte – im selben Jahr wie Enja es in den USA und in Europa veröffentlichte. Was ich hier höre ist Mainstream-Jazz der allerersten Güte, mit dem Leader in bester Form, nur am Tenorsaxophon (kein Varitone, keine Trompete mit Sax-Mundstück, keine Keyboards, kein Gesang – auf dem anderen Enja-Album gibt es davon dann die volle Dröhnung) und mit einer erstklassigen Begleitcombo: Kenny Barron, Cecil McBee und Ben Riley. Das Album lief die letzten Wochen auch mobil wieder einige Male.

Was ich zur Musik schreiben kann – nicht leicht, da ich hier wirklich fast jeden Takt antizipieren kann, halbe Soli auswendig kenne. Los get es souverän mit „Love Letters“, der zarte und doch starke Ton von Harris, so biegsam und beweglich wie kein anderer ihn am Tenorsax hatte, ist perfekt in Szene gesetzt. Die Rhythmusgruppe fällt nie in allzu erwartbare Gefilde, Barron klingt sehr frisch, auch da, wo er seine alten Bebop-Chops auspackt … aber ein Bebop-Album ist das echt nicht geworden. An zweiter Stelle da 10minütige „Historia de un amor“ von Carlos Eleta Amarán, einem Songwriter aus Panama. Latin-Beat im Thema, 4/4 in den Soli, Fours – ein melancholischer, vielleicht etwas kitschiger Bolero, der für einen Film aus dem Jahr 1956 entstand und in Argentinien auch als Tango aufgenommen wurde (irgendein Witzbold hat bei Wikipedia 2015 als Jahr eingetragen, weil es da eine neue Version von Il Divo gab). „Autumn in New York“ als Ballade folgt – Riley glänzt an den Besen. „Photographs of You“ ist dann das erste von zwei Harris-Originals, hier ist im mittelschnellen Tempo sein so typisches kreisendes Saxophonspiel zu hören. „The Song Is You“ von Richard Kern ist als viereinhalbminütige unbegleitete Tour de Force des Leaders zu hören – irres Tempo, perfekte Time, schöner Ton …

Dann folgt das zweite epische Stück, Rogers‘ „Harlem Nocturne“ mit über zwölfeinhalb Minuten. Piano/Bass-Vamp, darüber singt Harris das Thema – Inselmusik mit tollen Soli von Harris und Barron. Der ist danach mit dem Titelstück zum zweiten Mal als Komponist vertreten, noch eine Latin-Nummer mit hohem Wiedererkennungswert und einer tollen Performance des Leaders inklusive ein paar so typischer Ausflüge ins Falsett – gern als weite Sprünge, aber er trifft auch einzelne Töne stets perfekt (seine eigenwillige Intonation mag eher anderswo auffallen). Nach dem Piano-Solo riffen Harris und Barron und im Wechsel mit ihnen kriegt Riley ein paar Takte. Zum Ausklang folgt dann eine rasante Version von „Lover Come Back to Me“ – das ist ein Tempo, bei dem ich mich vor allem bei den Drummern frage, wie die das ohne Verkrampfungen hinkriegen – im Gegentil, Riley spielt hier auch noch ein feines Solo am Ende. Es geht in den acht Stücken hier fast immer um Liebe – gut möglich, dass bei der Auswahl jemand mitgeredet hat (scheint ja bei solchen japanischen Produktionen öfter mal der Fall zu sein – aber zum Glück ist das kein Balladenalbum geworden). Für mich funktioniert das von Anfang bis Ende, die Stunde wird mir keine Sekunde lang.

In den Liner Notes berichtet Todd Barkan von der Karriere von Eddie Harris, dem genialen Innovator, von seinem – oft vergeblichen – Kampf um Anerkennung, versucht ihn, in eine Linie mit Jazzgrössen einzuordnen (völlig zu recht, finde ich, aber wer das nicht begriffen hat, den wird so eine Lobeshymne auch nicht umstimmen, drum liest sich das alles etwas seltsam) und zitiert Branford Marsalis, 1990 ein wichtiger Gewährsmann: „Make no mistake about it: there is no badder cat around than Eddie Harris. He is a true giant of the saxophone.“

Ein paar der kleineren Stationen im biographischen Abriss hatte ich nicht mehr präsent und finde ich doch recht witzig: 1936 geboren, spielte Harris (er besuchte die DuSable High in Chicago) als Teenager an der Strassenecke mit Bo Diddley, sein ester professioneller Gig war als Pianist, ein One-Nighter mit der Band von Gene Ammons. Und er spielte in jungen Jahren auch mit Charlie Parker und Lester Young. Mit der 7th Army Symphony tourte er dann durch Frankreich und Deutschland, spielte in einer Band, zu der auch Cedar Walton und Leo Wright gehörten, jammte mit lokalen Bands.

The George Gruntz Concert Jazz Band – Blues ’n Dues et Cetera (The New York Sessions) | Dann mein zweites Gruntz CJB-Album auf Enja – erst neulich mal mitgekauft und noch gar nie angehört, glaube ich. Neun Stücke, 67 Minuten, aufgenommen am 4., 5. und 29. Januar 1991 in den Clinton Studios in New York. Die Line-Ups wechseln etwas, zu hören sind insgesamt: Marvin Stamm, Randy Brecker, Michael Mossman, Jon Faddis, Wallace Roney, Franco Ambrosetti, John D’earth, Bob Millikan (t/flh), John Clark, Jerry Peel (fh), Dave Bargeron, Jim Pugh (euph), Howard Johnson (tuba), Chris Hunter, David Mann, Bob Mintzer, Bob Malach, Jerry Bergonzi, Al Foster, Roger Rosenberg (reeds), Gast John Scofield (g), auf ein paar Stücken The Lucifers als Posaunen-Section: Ray Anderson, Art Baron, Dave Taylor und als Gast aus Gruntz‘ Stamm-Line-Up Bargeron, sowie auf allen Stücken die Rhythmusgruppe aus Gruntz, Mike Richmond (b) und Adam Nussbaum (d). D.J.A.D. steuert ein paar Mal Scratches bei und Ray Anderson zusammen mit Desire auf einem auch noch etwas Rap.

„Q-Base“ heisst der Opener und der DJ öffnet mit einem rudimentären Beat von Nussbaum, Scofield gesellt sich dazu – Rockit und all das waren auch bis nach Basel vorgedrungen. Und wenn die Bläser einsetzten, ist „Buckshot LeFonque“ erst Mal gar nicht weit – und doch Welten entfernt. Chris Hunter ist der Solist am Sax, der sich zu Scofield und dem DJ gesellt (wer das ist, scheint unklar zu sein, keine weiteren Credits bei Discogs) – der Beat bleibt karg und hart … und irgendwie ist das recht schnell durch, auch wenn es dann noch ein paar Minuten dauert und Hunter sich Mühe gibt, eingebettet von der Sax-Section (hier drei Tenöre: Mintchel, Malach und Bergonzi, sonst fast immer die übliche Fünfer-Combo mit Hunter/Mann, Malach/Foster, Rosenberg). „Datune“ ist dann den Kindern der Bandmitglieder gewidmet und ist die Bezeichnung des damals eineinhalb Jährigen Raven Anderson für „telephone“, ein Vater Ray hat das Stück komponiert. Roney (t), Mann (as), Anderson (tb) und Faddis (t) sind die Solisten.

Im echten Wald ist zum Glück selten eine kreischende Scofield-Gitarre zu hören – Gruntz, der Gast-Gitarrist und Franco Ambrosetti sind die Solisten im langen „Forest Cathedral“, dem „ecology song“ des Albums, wie Gruntz schreibt. Hier gefällt mir das sparsame Klaviersolo am besten – der Rest verläuft sich irgendwie schnell, auch das Arrangement finde ich eher etwas langweilig, auch wenn es klanglich durch die reine Blechbesetzung schon recht attraktiv ist (2 flh, 2 frh, 2 euph, tuba, g, p, b, d). Im folgenden Titelstück gibt es wieder die vierköpfige (as/ts/ts/ts) Sax-Section und zwischen Spots für Gruntz und Nussbaum eine der Reihe nach Bob Mintzer, Bob Malach und Jerry Bergonzi (alle ts).

Auf „Rap for Nat“ gibt es dann den vokalen Auftritt (Rap mag ich das irgendwie nicht nennen) von Ray Anderson und Desire, Scratches vom DJ und Soli von Roney (t), Malach (ts) und Nussbaum (d), der wieder einen kargen Beat spielt, wie ihn auch eine Drum Machine hingekriegt hätte. Roney ist ziemlich toll, wenn er nach der ersten Einlage sehr cool übernimmt. In „Two Friends“ wird es dann in recht gemächlichen Tempo Funky und a ist hauptsächlich das Blech dran: Brecker und Mossman (t), Johnson (tuba), Bargeron (euph), und dann auch noch Chris Hunter (as).

Stamm (t) und Bargeron (euph) sind neben Gruntz die Solisten in dessen „Sentimental Over Mental Food“, das Ellingtons „In a Sentimental Mood“ paraphrasiert und dann inkludiert – für eine kleine Blech-Besetzung (Stamm-flh, Clark/Peel-frh, Bargeron/Pugh-euph, Johnon-tuba) mit Rhythmusgruppe arrangiert und vielleicht mein Favorit hier. Das Finish des Albums – die letzten 25 Minuten, wenn die Gitarre, der DJ, die Rapper*innen und mal durch sind – ist eh stark: es folgt „Gisueppi“ von Richmond im 12/8, dem Gruntz eine Tarantella voran setzt und in dem neben Gruntz und Richmond John Clark mit einem tollen Horn-Solo und am Ende nochmal Marvin Stamm zu hören sind. Im Closer, „General Cluster“ sind Art Baron (tb), Dave Taylor (btb) und John D’earth (t) die
Solisten, Taylor sei seit langen sein „cluster man“, so Gruntz, „as he takes care so well of my serial European ambitions“. Der Posaunenchor ist hier nochmal dabei Baron spielt Bassflöte (auf er Hülle steht „bass recorder“, aber ich höre hier eine Bass-Querflöte) und eine dieser grossen Muscheln, Taylor setzt auch seine Stimme ein – hier sind wirklich Gruntz‘ Ambitionen als Komponist zu hören. Nach dem langen klangmalerischen Intro setzt die Rhythmusgruppe ein, und was zunächst wie ein Übergang in den „Jazz-Teil“ klingt, entpuppt sich bald als Finte: das Arrangement bleibt ambitioniert, es gibt dicht gesetzte Bläser … nun ja, Cluster, und bald die nächsten solistischen Einwürfe von Taylor, die vom Ensemble immer wieder eingeholt werden, dann beginnt Taylor eine Art Rezitation, die auch immer lautmalerischer wird … Mingus‘ Experimente der Fünfziger sind hier auch nicht weit. Vor dem stimmigen Schluss geht das Tempo hoch und D’earth schwebt an der Trompete über der kompakten Rhythmusgruppe.

Unterm Strich bleiben meine Gruntz CJB-Annäherungen bestenfalls semi-erfolgreich … aber irgendwann höre ich dann mal wieder in ein paar seiner späteren Alben auf TCB oder die schon erwähnten Aufnahmen mit den WDR oder NDR Radio Big Bands rein.

McCoy Tyner – Remembering John | Nach dem bunten Strauss von Gruntz eine Wohltat: ein No-Bullshit-Klaviertrio mit McCoy Tyner (p), Avery Sharpe (b) und Aaron Scott (d). Los geht das seinem ehemaligen Boss gewidmete Programm mit „India“ – also nicht mal ein Vamp, eigentlich nur ein Orgelpunkt vom Bass über fast sieben Minuten. Nach dem Klaviersolo ist der Bass an der Reihe, wobei der Orgelpunkt jetzt nicht mehr wirklich durch läuft. Tyner deutet ihn an, streut aber weitere Akkorde ein. Die Aufnahme, die sehr präsent klingt (in meinem Fall die 24bit-Remaster-CD unten), entstand am 27. und 28 Februar 1991 in den Clinton Studios in New York (wie üblich mit Jim Anderson). Fast eine Stunde dauert das Album, auf dem neben fünf weiteren Coltrane-Stücken auch Monks „In Walked Bud“ sowie „Like Someone in Love“ (Van Heusen/Burke) und „Good Morning Heartache“ (Higginbotham/Fisher/Drake) zu hören sind. Da hier auch „Giant Steps“ zu hören ist, bietet sich ein Vergleich mit Tommy Flanagan. Da würde ich sagen klingt das Tyner Trio vielleicht weniger toll, aber wirkt integrierter, eingespielter – und offener. Auch wirkt das alles offener, selbst wenn die Musik streng in den Formen bleibt – hier weht erwartungsgemäss ein anderer Wind. Die Bezungspunkte sin auch andere, es gibt nach dem Monk-Stück und dem ersten „One and Four“, „Up ‚gainst the Wall“ und dann nach dem Holiday-Song zum Ausklang „Pursuance“ und eine lange Version von „The Wise One“. Der Schwerpunkt liegt also bei Coltranes Impulse-Aufnahmen, während Flanagan den Fokus auf die Atlantic-LP „Giant Steps“ legt, an der er selbst beteiligt war. Klar: das gilt mit der Ausnahme von „Giant Steps“ für die Stücke, die Tyner wählte, auch – aber der hat da natürlich auch eine sehr viel grössere Auswahl. Mir gefällt das Ergebnis recht gut, auch wenn es unterm Strich schon recht konventionell geworden ist.

In diesen Zeitraum fällt auch das Album „Under the Wire“ von Michael Marcus, das ich wieder gehört habe, bevor ich mich ans chronologische Hören machte.

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