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Michele Rosewoman – Quintessence | Leaderinnen sind bei Enja bis dahin rar – aber die 1953 in Oakland geborene Pianistin Michele Rosewoman scheint ordentlich Eindruck gemacht zu haben, und das ist leicht nachzuvollziehen bei diesem Label-Debut (es gab 1984 schon ein Album auf Soul Note, das Enja-Album ist ihr zweites). Steve Coleman (as) und Greg Osby (ss – nur auf „Lyons“ auch as) sind dabei, als Rhythmusgruppe fungieren Anthony Cox und Terri Lyne Carrington. Winckelmann hat produziert, A & R Studio in New York, 26. und 28. Januar 1987. Die CD kam gemäss Discogs erst 1993 (unklar, auf meiner steht nur 1987) und enthält einen zusätzlichen Track, „The Dream (#3)“. Rosewoman hat alles Material selbst komponiert. In den Liner Notes schreibt Thulani Davis, dass Rosewoman schon seit 1973 als Bandleaderin unterwegs sei, als Leaderin von Bands zwischen Trios und einer 14-köpfigen Formation. Davis wertet „Quintessence“ als „a real coming of age“.
Ich möchte den zweite Absatz der Liner Notes von Thulani Davis gleich ganz zitieren, denn ich finde das folgende eine hervorragende Beschreibung von Michele Rosewomans Musik:
Like others of the younger generation Rosewoman pays homage to tradition, spiritedly drawing on the legacies of Be-Bop, ’60s and ’70s Miles, and the infinite variety of Cecil Taylor and Ornette Coleman. She can move freely in dense dissonant landscapes, and when she goes for the funk, she can always find the pocket. Rosewoman has carved out a unique sound by also studying other world music traditions, particularly Cuban folkloric music. Years of playing Latin has made Rosewoman a driving, percussive player with a mean left hand, and she has consistently been praised by critiss for her inventive solo wkr and the rich textures of her compositions. Michele Rosewoman’s music is lushly colored, open-ended music, propelled by a variety of rhythmic possibilities.
~ Thulani Davis
Die Musik bietet boppige Linien, Vamps, Clusters, harte Beats, kantige Bass-Licks, Formen und ihre Dekonstruktion, wilde Sprünge, üppige Harmonien, funky Romps … das geht ständig in alle Richtungen, klingt aber zugleich völlig kompakt und in sich total stimmig. Vielleicht bietet sich in mancher Hinsicht das Dave Holland Quintet als Vergleich an, mit dem sich das Quintessence-Quintett den einen Saxophonisten teilt? Die Schattierung ist vor allem dank Anthony Cox‘ tiefschwarzem Bass recht dunkel – was das helle, tatsächlich perkussive Klavier der Leaderin hervortreten lässt (hör ich da etwas mehr Chick Corea als bei den meisten anderen? Jedenfalls weiss sie das Haltepedal wohltuend dosiert einzusetzen und klingt stets knackig frisch), das gibt manchmal – auch mit Coleman – eine Art Chiaroscuro-Effekt, den ich sehr schön finde. Die ganze Band überzeugt mich hier, alle fünf klingen sie frisch, wenig, aufmerksam, schnell – alle haben Chops bis zum Abwinken, wissen aber auch, wann sie Druck machen und wann nicht.
Ein hervorragendes Album, das ich erst im Kielwasser unserer 90er-Strecke entdeckt habe, als ich meine Rosewoman-Bestände von null auf sechs ausbaute (viermal Enja, aber „Harvest – Quintessence III“ ist leider gerade verschollen).
Und damit bin ich in der Ecke angekommen, in der Enja und M-Base sich berühren – das wäre ja von der Katalognummernchronologie her längst fällig gewesen (Klatt ist 5069, Rosewoman 5039), aber ich wollte einen Tag mit genügend Zeit dafür abwarten und den habe ich heute. Und irgendwie bin ich froh darum, denn hier weht ein frischer Wind herein – und es drängt sich mir ein wenig der Gedanke auf, dass bei aller Qualität, die die Produktionen von Enja auch Mitte der Achtziger boten, ein wenig von der Experimmentierfreude, von der Frische, der Überraschung der ersten Jahre verschwunden ist im Lauf der Achtziger? (Und vielleicht als Folgefrage, die unbeantwortet bleiben muss: ob mein Eindruck gleich wäre, wenn ich auch hier den Katalog noch fast vollständig kennen würde? Ob mein Fazit dann eher positiver oder negativer ausfallen würde? Meine Vermutung ist natürlich letzteres, denn sonst hätte ich zu diesem Zeitpunkt auch weniger Lücken … wobei diese ja schon auch dadurch zustande gekommen sind, was in den letzten 30 Jahren halt [nicht] erhältlich war.)
Gary Thomas – Seventh Quadrant | Das Album läuft gerade zum erten Mal, ich habe es vor ein paar Wochen bei einer Enja/Tutu-Bestellung auf Discogs gekauft, nachdem @vorgarten es hier beschrieben hat:
ich fange mal hier an, obwohl ich eher lust habe, bei den frühen enjas lücken zu schließen. aber interessant ist das schon, dass thomas sein debüt für enja aufnahm, nachdem die chefs drei jahre füher die historische chance verpasst hatten, das debüt von steve coleman zu produzieren, dessen musik ihnen zu wenig akustisch war (ihr volontär und damalige „mann in new york“ stefan winter übernahm den job dann und gründete dafür JMT). tatsächlich hat das hier einen eher akustischen ansatz, wenn man von bollenback und seinem sporadisch eingesetzten gitarrensynth absieht. gefällt mir sehr gut, thomas spielt halt wie kein anderer tenorsaxofonist (und flötist), und eine band aus rosnes, anthony cox und jeff ‚tain‘ watts schadet auch nicht. erstaunlich reif für ein debüt, eine dunkel anrollende materie, wenn sich thomas erstmal warmspielt, bollenback gefällt mir auch ziemlich gut, der gehört zu den jazzinformierten freigeistern und spielt akzentuiert, nicht dominant. habe ich alles noch nie gehört. hatte „m-base auf enja“ erwartet, aber das ist was anderes, eigenes.
Das ist tatsächlich nochmal ein gutes Stück dunkler als das Rosewoman-Album – oder: es fehlt der helle Gegenpol, weil Rosnes anders klingt (nicht so knackig und akzentuiert, das ist der Unterschied, der mich zur „mehr Corea“-Vermutung bringt, hier höre ich im Anschlag vielleicht eher Tyner) und das Tenorsax vs. Alt/Sopran natürlich auch zu einer Akzentverschiebung führt. Das hat einen tollen Flow, zieht mich schnell rein (auch wenn ich den Gitarrensynthesizer meist nicht gebraucht hätte). Jeff „Tain“ Watts ist super, druckvoller als Carrington, unberechenbarer – und das passt hier sehr gut. Wenn im langen „No“ nach starken Soli von Rosnes und Bollenback eine lange Duo-Passage von Thomas/Watts erklingt, liegt es nicht fern, an John Coltrane und Elvin Jones zu denken. Im folgenden „First Sketches“ verläuft die Achse dann zwischen Querflöte und Gitarre und Rosnes pausiert zunächst, spielt dann aber ein feines Solo, das in seiner Linearität zunächst etwas an Tristano erinnert – auch ein interessanter Gedanke, sich das Album ohne Klavier vorzustellen (kein Rosnes-Diss, ich mag sie … hab ich eigentlich als Folge der 90er-Strecke auch mal noch wiederhören und etwas vertiefen wollen). Im Titelstück finde ich dann den Gitarrensynthesizer für einmal ganz gut eingesetzt, das funktioniert mit seinem stapfenden Beat und dem Zusammenspiel von Bollenback und dem Tenorsax des Leaders super. Wie zum Ausgleich – und auch für gute Abwechslung sorgend – ist dann im kurzen „Labyrinth“ wieder Rosnes an der Reihe, im Duo mit dem Leader (ts), der hier als grossen Balladenkünstler glänzt. In „Chiaroscuro“ klingt die Band wieder so integriert und eng verzahnt wie im Opener, Thomas greift nochmal zur Flöte, Rosnes und Bollenback sind stark, Cox/Watts spielen eine Art Latin-Backbeat, den ich nicht wirklich einordnen kann – ein echt tolles Stück, das aber mit seinen acht Minuten zu viel für die zweite LP-Seite gewesen wäre (die LP-Seiten dauern schon ca. 26 Minuten). Wie die erste endet auch die zweite Hälfte mit einem zehnminütigen Stück – dem schon erwähnten Closer von Terri Lyne Carrington, „The Eternal Present“, in dem Watts nochmal richtig aufdreht, während Cox eine bewegliche Begleitung spielt, die wie im Funk immer wieder satt auf der Eins landet, sich dazwischen aber immer mehr Freiheiten herausnimmt. Das ist aller erneut total ineinander verzahnt, das irre Solo des Leaders wirkt fast nicht wie eins, weil die Begleitung so dicht ist (kein Klavier, aber Gitarre mit Synthesizer-Effekten). Nach sieben Minuten ist dann das Bass/Drums-Gespann dran. Cox rifft weiter, während Watts irres Zeug mit dem Beat anzustellen beginnt.
Unterm Strich wirkt das Album lässiger, entspannter als das von Rosewoman. Wenn Kevin Whitehead es in seinen Liner Notes „a blowing date“ nennt, finde ich das spätestens im zweiten Stück („Tablet of Destinies“, hier sitzt zum einzigen Mal Billy Murphy am Schlagzeug und Bollenback pausiert) total plausibel, ohne dass diese Aussage die Kompaktheit und Geschlossenheit des Gebotenen mindern würde. Dennoch finde ich das unterm Strich etwas weniger aufregend und packend als „Quintessence“. Zugleich ist es aber ein Album, das ich mir regelmässiger zu hören vorstellen kann.
Von wann die Aufnahme ist, muss ich im Netz suchen, denn bei meiner CD (1987 steht drauf, aber sie gehört zur 25th Anniversary Series, erschien also ca. 10 Jahre später – never mind the details, wie so oft bei Enja) gingen sie vergessen (null Infos zu Produktion, Studio, Ort, Komponist*innen, Coverdesign, Foto… – eben: never mind the details): A & R Studios, New York City, 3. und 4. April 1987. Das Material stammt bis auf zwei Ausnahmen vom Leader. „First Sketches“ stammt von einem Anthony Perkins, der auch auf Thomas‘ „The Kold Kage“ nochmal auftaucht, sonst bei Discogs nicht nochmal), der Closer „The Eternal Present“ dann von Terri Lyne Carrington – und das ist nicht die einzige Verbindung zum Album von Rosewoman, denn auf CD (in diesem Fall ist beides, LP und CD, bei Discogs von 1987 verbürgt) gibt es an zweitletzter Stelle noch einen Zusatztrack eingestreut und der heisst passend zu meinen Zeilen oben (hatte ich da noch gar nicht gesehen): „Chiaroscuro“. Das Coverfoto stammt von Jennifer Bishop.
Michele Rosewoman & Quintessence – Contrast High | Aus dem Albumtitel ist ein Bandname geworden, als in den ACME Studios in Mamaroneck, NY im Juli 1988 dieses zweite Rosewoman-Album für Enja entsteht (produziert von Rosewoman selbst, aufgenommen von Peter Dennenberg, mit dem Rosewoman dann den Mix machte). Osby spielt hauptsäcchlich Altsax, Gary Thomas (ts/fl) ist anstelle von Coleman dabei, Lonnie Plaxico (auch am E-Bass) und Cecil Brooks III sind die neue Rhythmugruppe und auf „The Dream #1“ (#3 gab’s auf dem Vorgänger-Album) ist noch Eddie Bobé (bgo/guiro) dabei. Der Klang ist dunkler als beim ersten Album, was nicht nur am Tausch des Sopran- gegen das Tenorsax liegt sondern auch an Plaxico, der im Opener „Commit to It“ gleich die Bassgitarre spielt, die recht dominant wirkt, während Brooks leichter aufspielt als Carrington, mehr einen klöppelnden Flow sucht als die grossen Eruptionen (wie Watts sie als kleinere und grössere Erschütterungen ständig durch die Musik wabern lässt). Im zweiten Stück, „Panambula“, im Trio gespielt, packt Rosewoman ihre Latin-Jazz-Chops aus, bevor Plaxico ein Solo spielt – jetzt am Kontrabass, der mir etwas zu hallig (schmierig, was auch immer, er klingt zu leicht zu lang nach) aufgenommen ist, aber an sich super klingt. Wir sind in den Achtzigern – also packt jetzt auch Rosewoman den Synthesizer aus, wenn sie in „Of All“ auch singt (nicht immer intonationssicher und mit ziemlich dünner Stimme – nicht die beste Idee, finde ich). Danach sind Osby und Thomas zu hören, die richtig gut zusammen klingen. Ich finde diese zweite Runde zwar nach wie vor super und vieles, was Thulani Davis (und ich) oben sagen, stimmt auch hier noch – aber ich höre eine Gewichtsverlagerung hin zu mehr Klavier und insgesamt eine weniger druckvolle (hat mit dem Schlagzeug viel zu tun, wobei Brooks mir an sich hier gut gefällt) und weniger tighte Band. Auch die Latin-Schiene ist etwas deutlicher präsent, auch im zweiten Stück mit Gesang, „Akomado“, das nach Yoruba klingt (ich habe keine Ahnung)? Hier ist Osby am Sopran zu hören und verschmilzt da ebenso gut mit Thomas – und Brooks ist stark. Rosewoman glänzt jedenfalls, ich finde sie auf dem ganzen Album hervorragend. Auch Plaxico spielt stark auf und die Bläser haben ebenfalls immer wieder tolle Momente.
Der Credit für das Gemälde auf dem Cover: Estera. Da kann ich nichts weiter finden, finde das Bild aber gut – und noch besser ist es in der US-Ausgabe, die eine schöner (aber weniger „contrast high“) Farbe zur Einbettung bietet:
EDIT: weil ich das unterschlagen habe, obwohl es in den Liner Notes erwähnt wird – der Nachtrag von @vorgarten, danke:
vorgarten
schön, was hier los ist, die rosewoman-ecke muss ich auch noch auffrischen, zur vö-zeit hatte ich nur CONTRAST HIGH von ihr. osby, thomas & plaxico waren übrigens zu der zeit auch 3/5 der special edition von jack dejohnette, also sehr gut aufeinander eingespielt.
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Das Überlängen-Problem haben diese Enja-Alben übrigens alle nicht (auch nit „Seventh Quadrant“, das mit einer Stunde Spieldauer das längste der drei ist) – das scheint eher ein Wiessmüller-Ding gewesen zu sein.
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Das Album von Tony Reedus, das @vorgarten auf der letzten Seite vorstellt, kenne ich übrigens noch nicht – hatte noch nicht mal das Cover zur Kenntnis genommen. Es würde hier wohl auch ganz gut dazu passen – aber bei mir geht es jetzt wieder eher traditionalistischer zu und her … noch zwei 5000er-Alben, dann bloss etwas über ein Dutzend 6000er bei denen nur einmal ein paar M-Base-nahe Namen auftauchen (Cox, Graham Haynes).
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Da ich nochmal was übersprungen habe, um das zweite Rosewoman-Album auch hier unterzubringen, nochmal die Lücken und Auslassungen* des letzten Teils der 5000er-Nummern:
5075 – Maria João and Aki Takase – Looking for Love
5077 – Barbara Dennerlein – Straight Ahead
5079 – Franco Ambrosetti – Movies Too*
5081 – Ray Anderson – Blues Bred in the Bone
5083 – Heinz Sauer – Cherry Bat
5087 – Jim Pepper – The Path* (lief bereits)
5089 – Stanton Davis – Manhattan Melody
5093 – Leni Stern – Secrets
5095 – Jerry González & Fort Apache Band – Obatalá
5097 – Chet Baker – My Favourite Songs
5099 – Mitch Watkins – Underneath It All
(5085 und 5091 sind „Seventh Quadrant“ und „Contrast Hight“)
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #160: Barre Phillips (1934-2024) - 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba