Antwort auf: Enja Records

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Kenny Barron – Scratch | Ein US-Pianist, bis dahin vor allem als Bebop-Musiker bekannt, ein englischer Bassist und ein Drummer aus der Westschweiz treffen am 11. März 1985 im ERAS Studio in New York erstmals aufeinander: Kenny Barron, Dave Holland und Daniel Humair. Das Ergebnis ist „Scratch“, das Album, mit dem Barron, so der Tenor (Liner Notes von Michael Cuscuna, Rezensions-Auszug von Jean-Louis Ginibre auf dem Rückcover meiner 1999er-CD aus der 25th Anniversary Series, vermutlich auch 1999 gekauft), einen bemerkenswerten Einstieg in die Welt des noch moderneren Jazz (des Jazz nach dem Bebop) gemacht habe – so ähnlich Ginibre, so richtig übersetzt krieg ich das nicht. Kurz davor hatte Barron mit Charlie Rouse (dessen Enja-Album gehört auch in den Zeitrahmen, es trägt die Katalognummer 4090, direkt vor der 4092 von „Scratch“), Buster Williams und Ben Riley die Monk-Ghost-Band Sphere gegründet (die erste Session war bei Rudy Van Gelder im Gang, als die Nachricht vom Tod Monks eintraf, Cuscuna wusste davon, rief aber erst bei RVG an, als er wusste, dass die Aufnahme fertig war). Winckelmann, so Cuscuna, erkennt Barrons schlummerndes Potential und unternimmt etwas. Das Ergebnis ist eben: „Scratch“. Für mich, ich hatte es drüben schon erwähnt, eine echt tolle Wiederentdeckung, denn bei den letzten Anläufen war ich nie wirklich davon überzeugt (nach 1999 gab es paar weitere, aber ich denke das Album lief seit mindestens 10 Jahren nicht mehr bis neulich). Nach vier oder fünf neuerlichen Durchgängen bin ich inzwischen davon ziemlich begeistert. Barron klingt so frisch wie selten, sein Ton ist wahnsinnig schön (die Aufnahme auch super) und mit Holland und Humair hat er zwei hellwache, hörende Begleiter an seiner Seite. Das ist, im Vergleich mit den Klaviertrio-Alben von Tommy Flanagan oder auch dem einen von Horace Parlan, definitiv ein anderes Kaliber (warum Kenny Drew nie ein Enja-Album machte, habe ich mich gerade heute Morgen gefragt, auf „The Falling Leaves“, dem Timeless-Album von 1990, das ich kürzlich aus Japan kaufte, ist mit George Mraz sogar ein Enja-Mainstay dabei, Lewis Nash am Schlagzeug). Cuscuna schreibt jedenfalls: „SCRATCH will forever be a historic marker in the career of Kenny Barron. This is an album for those who are his fans and those who have written him off in some neat category. Both sides will be changed by this album.“ Als Winckelmann ihn ein paar Tage nach der Aufnahme angerufen habe, um ihn für die Liner Notes anzufragen, habe er dessen Stimme die Erleichterung und den Stolz über das erreichte anhören können: „I knew that something very special hat occurred“. Und inzwischen weiss ich das auch.

Die Stücke stammen von Barron, mit je einem Beitrag von Carmen Lundy („Quiet Times“, ein Highlight) und Holland („Jacob’s Ladder“). Auf mich wirkt hier alles organisch, stimmig. Holland gerät nie (die der gerade erwähnte Mraz manchmal) in den Weg, auch dann nicht, wenn er in höhere Lagen aufsteigt. Humair finde ich eh immer wieder einen beeindruckenden Musiker, einen denkenden und mithörenden Drummer, der sehr nuanciert agiert und reagiert. Das ist schon ziemlich eindeutig Barrons Show hier, und dennoch wirkt das Trio dank der Güte der Begleiter vollkommen integriert und irgendwie durchaus gleichberechtigt. Im langen „Water Lily“ kriegt Holland ein langes Solo und lässt seinen unaufdringlich Bass singen – ich spüre hier ein gewisse Zurückhaltung, die aber dem Rahmen perfekt angepasst ist. Eins der schönsten Stücke in Barrons ganzer Diskographie ist zweifellos sein „Song for Abdullah“, in dem er in die Klangwelt von Abdullah Ibrahim eintaucht, ohne sich dabei zu verleugnen – eine bezaubernde Hommage. Ganz zum Schluss gibt es mit „And Then Again“ doch noch etwas Bebop – eine Paraphrase Barrons über einen Bebop-Klassiker von Charlie Parker (ich komme gerade nicht drauf, welcher das ist), doch auch dieser gerät frisch und wirkt offen, ähnlichen Aufnahmen des Keith Jarrett Trios durchaus vergleichbar.

Trivia: ich suche grad die Öffnungszeiten eines Ladens, in den ich nachher noch will – und nebenan gibt es ein Restaurant Enja. Vermutlich kein Ort, an den ich je gehen muss, aber trotzdem witzig.

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