Antwort auf: Enja Records

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gypsy-tail-wind
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redbeansandrice
Danke für die Zitate aus dem Bft und die Gedanken zu Norris… Ich wollte eigentlich Drifting nochmal gegen The Trio, das Norris Meisterwerk aus den 50ern hören, um ein besseres Gefühl für ihn zu kriegen…

Das hatte ich die Tag auch in den Händen, sollte ich ebenfalls machen!

Die nächsten Enja-Alben sind wieder Lücken oder gehören zu denen, die ich heuer auslasse: Gil Evans‘ „Blues in Orbit“ ist eine Übernahme (Ampex, 1970 und/oder 1971), „Talisman“ von Mike Nock möchte ich mal noch in die Finger kriegen (1978 in der „Opera House Recording Hall“ in Sydney solo aufgenommen), „Inside Story“ von Prince Lasha ist dann eine der Grosstaten von Enja auf dem Gebiet der Ausgrabungen, ebenso das übernächste, „Mingus in Europe Volume II“. Dazwischen fällt noch „Mingus Lives“ von Mal Waldron, das ich leider auch noch nicht kenne.

EDIT: Links zu den inzwischen auch beschriebenen Alben eingefügt.

Weiter geht es danach hiermit:

Dollar Brand – At Montreux | Ein vergleichsweiser Nachzügler bei mir (heisst ich kenne ihn nicht seit immer oder seitdem ich 13 war, sondern wohl erst so seitdem ich 18 oder 20 war), der mir aber sehr schnell ans Herz gewachsen ist. Alonzo Gardner legt an der Bassgitarre das groovend-swingende Fundament, Andre Strobert klöppelt diese so leichten, binären Cape-Jazz-Beats, darüber heben Craig Harris an der Posaune und Carlos Ward am Altsaxophon und der Flöte zu ihren Solo-Ausflügen ab. Der Leader spielt hier sein inzwischen wohl typisch gewordenes, zurückhaltendes Piano. Mario Luzzi schreibt in seiner in meiner CD-Ausgabe (wohl die von 1984, aber Ende der 90er neu Laden gekauft – die war wohl länger erhältlich, die nächste Ausgabe bei Discogs ist dann von 2000 und die sieht etwas anders aus, das ist wohl mein spätestes Kauf-Datum) „una sorta di gioioso reiterative magnatismo sonoro ricci di lirismo dai chaiari riflessi spirituali e di una forte componente folklorica“ – ich glaub das muss man nicht übersetzen? (Es sollte wohl „magnetismo“ heissen, aber ich tippe einfach brav ab.)

Dass ich „African Marketplace“ eben „seit immer“ kenne, habe ich schon ein paar Mal erwähnt – und das Material, das Brands Quintett 1m 18. Juli 1980 in Montreux in der ersten Hälfte vorstellt, stammt von dort. Ohne die wunderbaren Arrangements, aber mit dem wichtigsten (Ward) und den beiden zweitwichtigsten (Harris, Brand) Solisten an Bord. Die zweite Hälfte greift dann auf „Africa – Tears and Laughter“ zurück, bietet vom monochromen Original quasi eine Technicolor-Version mit dem so viel farbigeren Saxophon von Ward, der vokalen Posaune von Harris und dem ebenfalls wärmeren, resonanteren Bass von Gardner. Schon in „Whoza Mtwana“ gibt es wahnsinnig tolle Momente, der „Marketplace“-Block geht wie dort mit „The Homecoming Song“ weiter: Ward wieder irre, Brand im Arrangement am Sax – was dem Sound natürlich nochmal eine andere Note gibt: viel Raum, Fokus auf den irren Groove, Gardner lässt seine Bassgitarre gehörig schnarren, während Strobert die Trommel mit den Scharrsaiten mit Besen zum Zentrum seines Beats macht. Es folgt zum Ende der ersten Hälfte auch noch das nächste Stück von „African Marketplace“, und es wird wie dort vom Leader am Klavier eröffnet, bevor Ward am Sax die Melodie singt: „The Wedding“. Wie das Stück am Ende mit dem tremolierenden Piano, dem schnarrenden Bass und der kurz einsetzenden Posaune doch noch fast orchestral klingt, hat etwas Magisches.

In der zweite Hälfte gibt es dann die erste Hälfte von „Tears and Laughter“: Ein kurzes „Tsakve“ ist in Montreux ganz zu beginn zu hören, danach folgen „The Perfurmed Forest Wet with Rain“ und „Ishmael“. In den Wald bricht Ibrahim zunächst allein auf. Mit einer seiner pet phrases, die wie abgewürgt wird, holt er dann Bass und Drums dazu, es wird gerifft, bis Flöte und Posaune dazukommen und mitriffen: das Thema besteht aus zwei einfach Phrasen. Ward und Harris spielen zurückhaltende, lyrische Soli, das Klangideal ist hier – passend zur Studio-Vorlage – ein anderes, etwas zurückhaltenderes – aber Strobert setzt immer wieder deutliche Akzente. Hinter Ibrahim legen die Bläser dann Linien, das sich anbahnende Klaviersolo kommt nicht, es ist nur eine Reihe von Kürzeln mit sehr viel mehr Pausen als Tönen. Das Outro wird dann wieder mit so einer typischen Phrase – aber direkt zusammen mit den Bläsern – losgetreten. Und dann setzt Gardner mit dem hypnotischen „Ishmael“-Riff ein – Rufe aus dem Publikum. Über eine halbe Minute dauert es, bis ein verlorenes Saxophon leise (etwas vom Mikrophon entfernt wohl) das Thema spielt. Dann sind’s plötzlich zwei Saxophone, zwei Minuten um, einzelne Trommelschläge, dann mit der Zeit ein Trommelbeat, Ibrahim (ja?) setzt dann zu einem Solo an, auch am Sax mit langen Pausen, viel Raum lassend. Dann übernimmt Harris und setzt hier ein letztes Glanzlicht, bevor die Band das Stück dann gemeinsam zu Ende führt. Ich höre mich an diesem „Ishmael“ gerade völlig fest – immer wieder von vorne. Man hätte auch damit eine Platte produzieren können: zweimal auf die A-Seite, zweimal auf die B-Seite. Oder noch besser eine Doppel-LP mit A/C B/D Pressung, damit man nahtlos wechseln kann mit zwei Plattenspielern.

In Carlos Ward hat Ibrahim seinen wohl kongenialsten Mitmusiker gefunden, wie auf dieser ersten Enja-Einspielung in kleiner Besetzung überdeutlich wird. Eine erste Aufnahme gab es schon Ende 1972 im Jazzhus Montmartre im Trio mit Don Cherry, „Third World Underground“ (Trio Records, 1974). Beim „African Space Program“ und dann nach dem südafrikanischen Intermezzo in den Siebzigern wieder bei „The Journey“ und eben bei „African Marketplace“ war Ward jeweils Teil grösserer Bands, wobei er bei letzterem den Löwenanteil der Soli kriegen sollte. Bis 1985 folgten noch zahlreiche Aufnahmen, danach verliess Ward leider die Band, die auch ohne ihn noch ein paar superbe Alben machte (auf Enja „Mindif“, „African River“ und „No Fear No Die“).

Thomas Fitterling, von dem der zweite Text im CD-Booklet meiner Ausgabe stammt (die Texte wie immer undatiert), schreibt ein paar allgemeine Zeilen, die einiges ganz gut auf den Punkt bringen, finde ich: „Einfache Liedharmonik prägt die Melodieführung, in den Klaviersoli des Meisters funkeln abgründige Bebop-Tupfer zwischen der eckig verfremdeten, spätromantisch durchsetzten Pianistik aus Hymnen- und Chorelementen. Sie bilden die Heimatquelle für den Südafrikaner Dollar Brand, Al Hajj Abdullah Ibrahim mit Moslemnamen. Protestantische Choräle der weißen Siedler, afrikanische Volksmusik und die bis von Indonesien kommende muselmanische Musiktradition flossen damit in reine Klangkaskaden ein.“

Das ist Musik, der gegenüber ich nicht distanziert, analytisch sein kann – das geht einfach direkt in mich hinein, gehört quasi zu mir – und ist damit sicherlich auch ein Teil meiner endlosen Faszination für den Jazz: Dollar Brand/Abdullah Ibrahim war zweifellos der grösste Türöffner.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba