Antwort auf: Enja Records

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Dollar Brand – African Space Program | Oder „Dollar Brand Orchestra“, wenn man die Plattenlabel zum Mass nimmt? Jedenfalls ist das Labeldebut vom heutigen Abdullah Ibrahim nicht nur graphisch eine Neuerung (zum ersten Mal darf das Foto mehr als zwei Kanten berühren) sondern auch von der Besetzung her super spannend. Ein Lieblingsalbum war es allerdings nie, wenn ich grösser besetzte Aufnahmen von Brand-Tunes hören will, greife ich zu „African Marketplace“, das ich tatsächlich Ton für Ton seit meiner frühen Kindheit auswendig kenne. Carlos Ward, der beim Elektra-Album als Hauptsolist agiert, ist auch hier dabei, als einer von ganzen fünf Saxophonisten: Sonny Fortune und Ward (as/fl), Roland Alexander (ts/harm), John Stubblefield (ts) und Hamiet Bluiett (bari). Dazu kommen vier Blechbläser: Cecil Bridgewater, Enrico Rava und Charles Sullivan (t) sowie Kiani Zawadi (tb) (auf Freddie Hubbards „Blue Spirits“ wird er „Kiane“ geschrieben). Cecil McBee und Roy Brooks sind die Rhythmusgruppe.

Brand ist Pianist, Komponist, Bandleader, Arrangeur – letzteres wird in „Tintiyana, First Part“, dem siebenminütigen Opener schnell klar. Roy Brooks spielt wohl eine Art Woodblocks, darüber pfeifen Flöten (vermutlich nicht nur westliche Querflöten?), über einem gehaltenen Basston verklingt nach eineinhalb Minuten das geräuschhafte Intro, ein leicht dissonant gesetzter Bläserchor übernimmt über marschierenden Trommelschlägen. Anklänge an Ellington werden wach, auch wenn das deutlich moderner klingt. Eine Lead-Trompete schält sich heraus, führt durch eine längere unbegleitete Bläserpassage, geankert vom sonoren Barisax von Bluiett. Der durchbricht dann mit Staccato-Tönen den nächsten eher getragenen Teil mit vielen Haltetönen, in den sich Brooks‘ Trommeln einmischen, um wieder Platz für den unbegleiteten Bläserchor zu machen. Das alles ist nicht perfekt synchron gespielt, aber gerade dadurch ist es interessant. McBee übernimmt dann für ein kurzes Bass-Solo, zu dem sich wabernde tiefe Geräusche gesellen (Donnerbleche, Gongs, oder doch nur etwas, was im Studio mitvibrierte?) – und ein Bläserakkord beschliesst das Intro. „Tintiyana, Second Part“ beginnt wieder mit den Bläsern allein, ein Altsaxophon spielt ein schon bekanntes kantiges Motiv, und nach einenhalb Minuten setzt Brooks ein, der jetzt an einem Drumkit zu sitzen scheint. Die Bläser verklingen, McBee setzt mit dem Bass-Riff ein, dann Brand am Klavier und schliesslich wieder die Bläser mit absteigenden Riffs, bis Brand am Klavier sein Thema vorstellt – eins seiner eingängigsten, das er unzählige Male gespielt hat (in jedem Konzert seit über 50 Jahren?). Sonny Fortune öffnet den Soloreigen am Altsax, gefolgt von Charles Sullivan, Bluiett, Cecil Bridgewater, Roland Alexander zunächst an der Harmonika, dann am Tenorsaxophon, Rava, Kiani Zawadi, John Stubblefield (immer munter gegen den Beat!), Carlos Ward und zuletzt Brooks. Die Soli sind kurz, fliessen in- und auseinander, es wird immer wieder gerifft, Brooks spielt dazu einen sehr freien Beat, der zwischendurch fast in Back-Beats kippt … das ist keine Big Band, kein Funk, kein grossorchestraler Free … das ist halt einfach Dollar Brand.

Seite zwei ist dann direkt in einem Teil: „Jabulani-Easter Joy“ heisst das Stück, wobei Jabulani eigentlich keinen WM-Ball bezeichnet sondern sowas wie „frohlocken“ heisst. Es geht wieder lautmalerisch los: geschrammelter Kontrabass, Percussion, tiefe Posaunentöne (hatte Zawadi auch sein Euphonium dabei?), dann wieder ein Choral, vermehrt Becken von Brooks dazu. Nach eineinhalb Minuten das eigentliche Thema in recht hartem Staccato von allen präsentiert. Die Bridge flüssiger, nach dem letzten A-Teil ein Ausbruch – irres Tempo! – und in den Solo-Reigen: Bridgewater hebt ab, Bluiett kommentiert und tritt schnell in den gleichberechtigten Dialog. Darunter wird gerifft. Zusammengehalten wird das durch Brooks/McBee und die das ständige Auf und Ab, die Riffs der anderen Bläser, die sich zwischen den Soli zu wilden Klangwellen auftürmen. Sullivan, Ward, Rava, Alexander, Zawadi, Fortune, Stubblefield, McBee und Brooks folgen mit Soli auch hier wieder auseinander und ineinander fliessend, dazu ein Auf- und Abebben der anderen Bläser, während das Klavier kaum je zu hören ist – Brand selbst gönnt sich auch kein Solo. Und doch ist das unverwechselbar seine Musik: allerdings wilder, dissonanter als davor und danach. Wenig später entstanden zurück in Südafrika wunderbare Aufnahmen mit Musikern wie Basil Coetzee, Barney Rachabane, Duku Makasi, Dennis Mpale, Robbie Jansen und auch nochmal mit Kippie Moeketsi. Danach, 1977, nahm Brand für Chiaroscuro erneut eine solche grösser besetzte Session mit US-Musikern auf, „The Journey“ (1977).

Als 1979 „African Marketplace“ folgte, hatte Brand seine Formel wohl gefunden und kein Bedürfnis nach den dissonanten Ausbrüchen mehr, wie sie ins „African Space Program“ eingeschrieben sind. Leidenschaftlich bleibt Ibrahims Musik bis heute – aber so roh, manchmal geradezu gewalttätig wie hier klang sie nur selten. Das Album wirkt wie eine Explosion, da bricht etwas heraus, platzt etwas auf. Und wo ich das nach viel zu langer Zeit wieder anhöre, merke ich: Das hat durchaus das Zeug zum Lieblingsalbum! PLAY IT FUCKIN‘ LOUD!

EDIT: Das ist ja nicht das Labeldebüt; ich hatte ja vorhin erwähnt, dass mir „African Sketchbook“ fehlt, die Chronologie bzw. Katalognummern beim Schreiben aber nicht mehr im Gedächtnis gehabt. Das ändert aber am Geschriebenen sonst nichts.

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