Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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30.01.2024 – Rudolf Buchbinder: Vi presento Beethoven – Lugano, LAC

Rudolf Buchbinder Klavier

LUDWIG VAN BEETHOVEN:
Klaviersonate Nr. 3 C-Dur, Op. 2 No. 3
Klaviersonate Nr. 8 c-Moll, Op. 13 „Pathétique“

Klaviersonate Nr. 10 G-Dur, Op. 14 No. 2
Klaviersonate Nr. 21 C-Dur, Op. 53 „Waldstein“

E: Schlusssätze aus Nr. 23 f-Moll, Op. 57 „Appassionata“ & Nr. 17 d-Moll, Op. 31, No. 2 „Tempest“

Vier Konzerte diese Woche, seit der Oper in Genf – und heute Abend noch ein Doppelkonzert mit dem 86jährigen Pierre Favre im Jazzclub. Ein paar Zeilen nur zum Gehörten. Buchbinder endlich mit Beethoven-Sonaten zu hören (das Konzert mit seinem Diabelli-Programm in der Tonhalle hatte ich ausgelassen) war mit ein Grund für den kurzen Urlaub in Genf und im Tessin. Und das hat sich sehr gelohnt, ganz wie erhofft. Den Einstieg fand ich etwas verhalten, auch schienen da und dort ein paar verrutschte Töne in die Läufe zu geraden. Doch das Konzert geriet zu einer Art Steigerungslauf, schon vor der Pause und erst recht danach. Buchbinders Spiel wirkte immer fokussierter, dichter, zwingender, und die „Waldstein“ geriet wirklich phänomenal. Dabei macht er – das ist ja bekannt – keinerlei Aufhebens um gar nichts: vom Moment, in dem er die Bühne betritt, bis zum ersten Ton, dauerte es kaum mehr als fünf Sekunden. Auch am Schluss stellt er sich rasch hin, geht raus, kommt wieder, spielt eine erste, dann eine zweite Zugabe – und nun war das der pure Rausch: die Schlusssätze zweier weiterer Sonaten gerieten so gut wie davor die „Waldstein“. Das war jedenfalls klar das beste Live-Erlebnis, das mir in Sachen Beethoven-Sonaten bisher vergönnt war.

01.02.2024 – Sergej Krylow / Play&Conduct – Lugano, Auditorio Stelio Molo (RSI)

Orchestra della Svizzera Italiana
Sergej Krylow
Violine & Leitung

MAX BRUCH: Concerto per violino e orchestra n. 1 in sol minore op. 26 (1868)

RODION K. ŠČEDRIN su temi di GEORGES BIZET: Carmen Suite, balletto in un atto per orchestra d’archi e percussioni op. 37 (1967)

Zwei Tage später führte mich der Weg erneut nach Lugano, aber nicht ins LAC, den Prachtbau am See, sondern zum ersten Mal endlich ins Auditorium der Radiotelevisione Svizzera (RSI), wo das Orchestra della Svizzera italiana (OSI – das Pendant zum OSR, dem Orchestre de la Suisse Romande, das ich in Genf in der Oper gehört hatte) jeweils einen Teil seiner Saison bestrietet. Ich erwischte das letzte Konzert, bevor der Rest wohl im viel grösseren Saal im LAC laufen wird. Das Auditorium, in dem ECM seit Jahren viele seiner Produktionen aufnimmt, ist Teil eines wabenörmigen grossen Gebäudekomplexes – auf dem Foto sind nur zwei Seiten des Sechsecks zu sehen, das auf drei Seiten Platz fürs Publikum bietet. Der Eingang ist hinter der Bühne auf der Galerie, zwei Seiten dienen nur als Zugänge bzw. für die Treppen, um in den unteren Bereich zu gelangen (ich sass oben an der Seite – hatte Glück, dort noch einen Platz in der ersten Reihe zu erwischen, das Konzert war ausverkauft).

Das Programm fand ich ehrlich gesagt fast etwas weniger verlockend als die Aussicht, den Raum endlich mal zu betreten. Doch besonders der erste Teil war richtig gut. Bruchs Violinkonzert, einst ein Repertoire-Klassiker (Bruch selbst regte sich schon darüber auf, dass alle Welt nur das erste hören wollte, nicht die anderen, die auch gut seien, wenn nicht sogar besser) scheint ja längst etwas aus der Gunst gefallen zu sein – das Konzert des OIS mit Sergej Krylow, der u.a. in Lugano als Dozent tätig ist, war jedenfalls meine erste Gelegenheit, das Konzert live zu hören. Krylow stand vorn in der Mitte, spielte mit dem Rücken zum Orchester, drehte sich aber immer wieder um, um zwischendurch zu dirigieren. Die Besetzung war relativ klein (die Streicher glaub ich 8-7-5-4-3), das geriet zwar nicht direkt kammermusikalisch, aber doch recht intim, was auch in den recht kleinen Saal bestens passte. Als Zugabe spielte Krylow dann noch einen langsamen Satz aus einer der Sonaten oder Partiten von Bach.

In der Pause gab es einen Umbau, denn danach waren keine Bläser mehr, dafür viel mehr Schlagwerk dabei. Die Schchedrin-Bearbeitung von Themen aus Bizets „Carmen“ kannte ich nicht (die einzige Aufnahme, die mir vorliegt, findet sich in der grossen Janssons/BR-Box, aus der ich noch keinen Ton gehört habe, Bizets eigene Suiten sind mir ebenfalls nicht vertraut, die sind auch nur als „Beifang“ in irgendwelchen Boxen ins Regal gewandert). Ich fand das im Konzert reizvoll, weil Motive oft abbrechen, vom einen Register ins nächste springen, oft zum Schlagwerk, wo die Mallets viel Arbeit hatten – besonders prominent das grosse Marimbaphon. Aber auch die Pauken durften mal eins der Motive intonieren, die alle Welt pfeifen kann. Zwischendurch fand ich diese Aufteilung der Motive, das Wechselspiel zwischen den Instrumenten, weniger prominent und da Geschehen entsprechend etwas vorhersehbarer. Aber klar, den Leuten (ich finde dazu keine Infos, aber ich denke im Saal haben um die 300 Platz) gefiel das.

Hier gibt’s den Live-Stream zum Nachschauen:
https://www.rsi.ch/cultura/musica/concerti/Orchestra-della-Svizzera-italiana-Sergej-Krylov–2057712.html

03.02.2024 – Mozart / Mahler – Zürich, Tonhalle

Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi
Music Director
Cristina Gómez Godoy Oboe

WOLFGANG AMADEUS MOZART: Oboenkonzert C-Dur KV 314

GUSTAV MAHLER Sinfonie Nr. 5 cis-Moll

Gestern Abend hörte ich in der Tonhalle dann die zweite Aufführung des Auftakts des Mahler-Zyklus, den das Orchester mit Paavo Järvi in Angriff nimmt (weitere Aufführungen folgen diese Saison nicht mehr). Das war wirklich ein grossartiges Erlebnis. Den Einstieg machte das gut 20mminütige Oboenkonzert von Mozart (rekonstruiert aus dem daraus adaptierten Flötenkonzert, wie ich es verstanden habe). Das Orchester spielte dafür in ähnlich kleiner Besetzung auf wie das OIS ein paar Tage zuvor. Ich erinnerte mich sofort an eins von Järvis ersten Konzerten mit dem Tonhalle-Orchester, in der Zwischensaison, als er noch nicht Chefdirigent war, aber schon mehrere Konzerte gestaltete. Da stand eins der Violinkonzerte mit Janine Jansen auf dem Programm – und genau so toll war das Oboenkonzert mit der jungen Solistin Cristina Gómez Godoy. Eine schnörkellose, beinah kammermusikalische Herangehensweise, ein aufmerksam hörendes Miteinander von Solistin und Orchester, aber bei aller Spontanität auch eine schnörkellose, unaufgeregte Sicht auf Mozart, wie ich sie bevorzuge, weil dadurch die unglaubliche Emotionalität seiner Musik umso schöner zum Vorschein gebracht werden kann. Toll!

Nach der Pause dann das Haupt-Event, wegen dem die Tonhalle zweimal ausverkauft war: Mahlers fünfte Symphonie. Mir ist sie bisher noch nicht so wirklich begegnet. In Auszügen z.B. in „Tár“, in einer kammermusikalischen Adaption letztes Jahr beim Lucerne Festival … und jetzt zum ersten Mal richtig, in grosser Orchesterbesetzung und mit einem Dirigenten, der Mahler für das Grösste überhaupt hält und sich freut, jetzt mit einem Orchester, das er für geeignet hält, sich hinter die Symphonien des vegetarischen Velofahrers und abergläubischen Pedanten und Machos mit Hang zu heftigen Wutausbrüchen zu machen. Das alles tut natürlich wenig zur Sache. Zur Sache ging es auf der Bühne, die Solisten an der Trompete und am Horn lieferten ebenso wie das ganze Orchester eine Spitzenleistung. Eine Musik, die mit ihren angedeuteten Tänzen, ihren überirdischen aber stets – schicksalshaft, möchte man einschieben – gebrochenen Melodien, ihren schroffen Brüchen, Abbrüchen, Aufbrüchen … ja was wenn? Durchaus: überwältigt, gerade mich, den ich sie zum ersten Mal so, in voller Wucht, erlebte. Aber eben auch – völlig anders als die Vierte – beglückt mit einem unglaublichen Reichtum an Ideen, an Emotionen. Danach benommen raus in die dunkle Nacht, um nur um am nächsten Morgen schon wieder in der Tonhalle aufzutauchen – für ein Kontrastprogramm aus der französischen Bonbonnière.

04.02.2024 – Kammermusik-Matinée – Zürich, Kleine Tonhalle

Haika Lübcke Flöte, Piccolo
Sarah Verrue Harfe
Elisabeth Harringer-Pignat Violine
Ewa Grzywna-Groblewska Viola
Paul Handschke Violoncello

GABRIEL PIERNÉ «Voyage au pays du Tendre» nach M. de Scudéry für Flöte, Violine, Viola, Violoncello und Harfe
TŌRU TAKEMITSU «And then I knew ‚twas Wind» für Flöte, Viola und Harfe
DANIEL SCHNYDER «Marsyas and Apollo» für Piccolo und Harfe
JEAN CRAS Quintett für Harfe, Flöte, Violine, Viola und Violoncello

Zu diesem Konzert wollte ich, weil Pierné (das Bonbon) und Cras (der Seebär) nicht alle Tage gespielt werden. Beide haben ihre Stücke für das Quintette Instrumental de Paris geschrieben, das der Flötist René Le Roy und der Harfenist Pierre Jamet gemeinsam leiteten – daher die ungewöhnliche Besetzung. „Im Fluss“ ist das Thema der Kammermusik-Matineen in dieser Saison, und das ist bei Pierné gegeben durch die musikalische Reise durch die imaginäre Welt, die die Schriftstellerin Madeleine de Scudéry erfand und von der Pierné sich inspirieren liess. Dass diese nun als Exponentin der „Preziosität“ gilt, passt perfekt, denn précieux – sowohl kostbar wie auch affektiert, etwas geziert – empfand ich das Stück von Pierné tatsächlich.

Hervorragend gefiel mir dann das dunklere, viel zupackendere aber nicht weniger facettenreiche Stück von Takemitsu, dessen Titel an ein Gedicht von Emily Dickinson angelehnt ist. Geschrieben hat er es für Aurèle Nicolet, der es im März 1992 uraufführte.

Das Stück von Daniel Schnyder entstand für Haika Lübkes Prospero-CD „Piccolo Legends“ (2022) und interpretiert die Legende vom Flöte spielenden Satyr und seiner Begegnung mit Apollo, die Marsyas nicht gut ausging: Apollo knüpfte ihn an einen Baum, und aus seinem Blut entstand der gleichnamige Fluss Marsyas. Schnyder war anwesend (zweites Foto, das erste dient als Ersatz, weil ich gestern in der vollen Tonhalle eh nur Ausschuss hingekriegt hätte von meinem Stehplatz hinten in der seitlichen Galerie) und alle waren zufrieden, schien es – aber ich habe mich unter dem Einfluss der Lektüre von Ethan Iversons Artikel über die „Rhapsody in Blue“ in der New York Times („The Worst Masterpiece“), seinem zugehörigen Blog-Eintrag sowie den Kommentaren/Diskussionen dort, gefragt, ob das nicht ein gutes Beispiel für das mangelhafte Können in Sachen Rhythmus sei, das in der Klassik immer noch eher die Regel als die Ausnahme zu sein scheint. Das soll keine Fundamentalkritik sein, auch wenn sie durchaus an Fundamentales rührt. Mir gefiel das Stück, es war klanglich attraktiv, ging an beiden Instrumenten auch kurz über die traditionellen Spielweisen hinaus. Und es bietet schöne Ideen und Motive – aber da liegt vielleicht das Problem: die Umsetzung dieser Motive, die oft stark rhythmisch zu sein scheinen, auch durchaus prägnant in der Harfe – das wirkte auf mich alles etwas beliebig, verwischt, unklar konturiert, irgendwie ohne Prägnanz phrasiert.

Den Ausklang machte dann das Quintett von Jean Cras, und das fand ich wieder sehr gut. Dass mich dort und auch bei Pierné diese rhythmische Ebene nicht beschäftigten, hat gewiss mit der Musik zu tun, mit den herkömmlicheren (Tanz-)Rhythmen, die da jeweils zu Einsatz kommen und die natürlich für Musiker*innen dieses Kalibers keinerlei Problem darstellen. Bei Schnyder spielt halt immer der Jazz rein mit seinen anderen Sets an Anforderungen – und die Brücke schlagen können weiterhin nur wenige Musiker*innen (mich dünkte, Thomas Enhco, den ich neulich ja mit der vermaledeiten „Rhapsody in Blue“ gehört habe, der habe das souverän gekonnt, aber ist vielleicht als Jazzmusiker nicht direkt der tiefsinnigste … ich muss auch die Einspielung von Stefano Bollani mit Riccardo Chailly wieder mal hervorkramen). Aber gut, Cras nochmal, Autodidakt (Mentor war Henri Duparc), der als Marineoffizier nebenbei komponierte – und dabei sehr interessante Werke schuf, wie ich finde. Dass der Fluss hier das Meer ist, mag das übergreifende Thema etwas strapazieren, aber dafür können sie halt demnächst wieder mal das Forellenquintett aufführen, das so langweilig und so erfolgreich sein wird wie immer. Cras‘ Quintett fand ich einiges ansprechender als Piernés, klarer, vielschichtiger, überzeugend in seiner Mischung aus Arbeit mit Motiven und virtuosen Läufen, der Art und Weise, wie die Bälle zwischen den fünf Stimmen hin und her gingen.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba