Antwort auf: Jahresrückblick 2023

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napoleon-dynamite
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20 aktuelle Alben, die mich das Jahr über begleitet haben:

1. JAIMIE BRANCH – Fly Or Die Fly Or Die Fly Or Die ((World War))
2. MATANA ROBERTS – Coin Coin Chapter Five: In The Garden
3. ANDRÉ 3000 – New Blue Sun
4. IRREVERSIBLE ENTANGLEMENTS – Protect Your Light
5. THE NECKS – Travel
6. PETER BRÖTZMANN, HEATHER LEIGH & FRED LONBERG-HOLM – Naked Nudes
7. TYSHAWN SOREY TRIO – Continuing
8. DARIUS JONES – fLuXkit Vancouver (i̶t̶s̶ suite but sacred)
9. PETER BRÖTZMANN, MAJID BEKKAS & HAMID DRAKE – Catching Ghosts
10. JAMES BRANDON LEWIS/RED LILY QUINTET – For Mahalia, With Love
11. ZOH AMBA – O Life, O Light Vol. 2
12. ROB MAZUREK & EXPLODING STAR ORCHESTRA – Lightning Dreamers
13. JOHNATHAN BLAKE – Passages
14. JAMES BRANDON LEWIS – Eyes Of I
15. THE BRIDGE – Beyond The Margins
16. NEW MASADA QUARTET – Vol. 2
17. CHRIS ABRAHAMS, OREN AMBARCHI & ROBBIE AVENIAM – Placelessness
18. DAMON LOCKS & ROB MAZUREK – New Future City Radio
19. BOBO STENSON TRIO – Sphere
20. ANGLES & ELLE-KARI WITH STRINGS – Kalypso Hypnos Drone

20 Wiederentdeckungen, neue Archivreleases und alte Aufnahmen neu gehört (in jahreschronologischer Reihenfolge):

GITTE & BAND – My Kind Of World
WALT DICKERSON – Relativity
DON CHERRY & JEAN SCHWARZ – Roundtrip
PHAROAH SANDERS QUARTET – Live At Fabrik, Hamburg 1980
MILFORD GRAVES – Children Of The Forest
EVAN PARKER – NYC 1978
EDDIE COSTA – The House Of Blue Lights
DOROTHY ASHBY WITH FRANK WESS – In A Minor Groove & Hip Harp
ANITA O’DAY – Anita Sings The Most
HILDEGARD KNEF – Träume heißen du
ROY CAMPBELL, WILLIAM PARKER & ZEM MATSUURA – Visitation Of Spirits
PETER BRÖTZMANN & SABU TOYOZUMI – Triangle, Live at OHM 1987
FRED ANDERSON QUARTET – The Milwaukee Tapes Vol. 2
DEREK BAILEY & PAUL MOTIAN – Duo In Concert
ANDRZEJ TRZASKOWSKI QUINTET – Seant
ZBIGNIEW NAMYSŁOWSKI QUARTET – s/t
JERZY MILIAN – Baazaar
ARIEL KALMA – Le temps des moissons
HAROLD LAND – Damisi
Die „Radical Jewish Culture“-Reihe auf Tzadik, v.a. BORAH BERGMANN TRIO – Luminescence & SATLAH – Exodus

Ein paar Konzerte, die bleiben:

Im Februar sehe ich Peter Brötzmann an zwei erstaunlich milden Abenden im Londoner Café Oto: noch einmal, nach einigen Jahren, im Quartett mit Jason Adasiewicz, John Edwards, Steve Noble – die UK-Connection mit Chicago-Erweiterung. Anders als bei den Konzerten Ende des letzten Jahres, bei denen Brötzmann noch sichtlich erschöpft den Wechsel der Instrumente dazu nutzte, länger durchzuatmen, sich abzustützen, wenn er nicht solo spielte, die Mitmusiker länger übernehmen zu lassen, wirkt er im Oto ausgeruht und gut gelaunt. Das Publikum ist dankbar: Die Schlange ist schon anderthalb Stunden vor Einlass lang, die Betreiber des Clubs kulant – am Ende stehen die letzten eintrudelnden Zuhörer*innen dicht gedrängt knapp hinter der gerade noch so zu schließenden Tür. Wo sich in Berlin bei Brötzmann je nach Kiez und Promotionnetz der Locations eine unterschiedlich große Mischung aus Hipstern und Pfeifenrauchern einfindet, sind seine Besuche in Hackney ein Stadtereignis, über das dieses Mal selbst der „Guardian“ berichtet. Diese beiden euphorisierenden Gigs, vielleicht die schönsten, die ich je mit Brötzmann erlebt habe, werden, das ist in dem Moment nicht zu ahnen, seine letzten werden.

Noch mal London ein paar Monate später, ein milder früher Nachmittag, leicht verregnet:  Alan Wilkinson im Trio mit Steve Noble und dem sehr jungen, sehr tollen Bassisten Otto Willberg in der Hundred Years Gallery. Eine winzige Konzertlocation im Keller unterhalb des Ausstellungsraum, die jedes Wochenende Musik aus der Nachbarschaft spielt (was hier bedeutet: John Butcher, Maggie Nicols, Edwards & Noble). Das kleine Publikum besteht aus Freunden und Familie, aber meine Freundin und ich werden sofort in die Taktung der Bierrunden mit einbezogen und torkeln bereits in der Pause zwischen den Sets.

Auch schön, in Berlin: Alexander von Schlippenbach, einmal im Trio mit Willi Kellers und Guilherme Rodrigues (im von russischen Expats betriebenen Petersburg Art Space, wenig Raum für wenig Leute, aber mit exzellenter Akustik), einmal im Quartett mit Danny Kamins, Matthias Bauer und dem fantastischen Drummer Joe Hertenstein (Kühlspot Social Club in Weißensee, Alt-Ost-Berliner Künstlerkolonien-Flair). Und: Morphine Raum in Kreuzberg, Hinterhof erster Stock: 6 Stunden Tony Buck & Marina Cyrino in einer Augustnacht, die wohl zu den wärmsten seit der Wetteraufzeichnung gezählt werden dürfte. Gegenseitig gucken wir uns alle neugierig verschiedene Arten des Sitzens über einen längeren Zeitraum ab: Am einfachsten ist es wohl, sich hinzulegen und im gegenseitigen Einvernehmen den Kopf auf den Bauch anderer Zuhörer zu legen.

Beim A’L Arme-Festival (Highlight: ein Solo-Set von Claire Rousay) findet dieses Jahr wenig Jazz-Zentriertes statt, beim Jazzfest sehe ich das großartige Konzert von Ambarchi/Berthling/Werliin in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, den Chicago-Abend im Haus der Berliner Festspiele, der bei mir kaum einen Eindruck hinterlässt, auch das Konzept der über die Bühne verteilten Konzerte nicht, und einen Gig, für den ich eine Karte besitze, sehe ich dann am Ende nicht: Da eines der Mitglieder von Irreversible Entanglements bei Facebook seit Wochen Kommentare postet, die ich als antisemitisch bezeichnen würde, scheint mir ein Konzert der Band in dem Moment keine Veranstaltung zu sein, bei der ich mich wohl fühlen würde. Und dieses Unbehagen und die Gespräche darüber, das wird zu dem Zeitpunkt, Anfang November, etwas, was für mich seitdem wichtiger und bestimmender ist, als im Moment Konzerte zu besuchen.

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A Kiss in the Dreamhouse