Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › Ich höre gerade … Jazz! › Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!
Bill Evans – Tales: Live in Copenhagen (1964) | Eine Art Postskriptum zu „Treasures“ – und für meine Ohren zugleich besser als diese etwas arbiträr wirkende Sammlung. Leider fehlt auch hier Monica Zetterlund, aber dafür müssten sie nach Schweden statt nach Dänemark gucken. Kommt ja vielleicht noch. Die Sessions auf „Tales“ (ca. 40 Minuten von 1964 mit den auf dem Cover genannten Chuck Israels und Larry Bunker sowie „Round Midnight“ als Ergänzung zur letzten Session auf „Treasures“, 21.11.1969 mit Gomez/Morell) wurden bei „Treasures“ weggelassen – vermutlich wären sie dort aber auch gekürzt worden, und das wäre schon schade gewesen! Zugleich ist „Tales“ nur so halb ein Album, weil die zwei Sessions vom 10. und 25. August (die erste im Radiohuset unter Studiobedingungen, die zweite vor Publikum im TV-Studio) vom Material her völlig redundant sind: bei der kürzeren TV-Session gibt es „My Foolish Heart“, „How My Heart Sings“, „Sweet and Lovely“ und das kurze „Five“, das als Sign-Off dient, zwei Wochen davor genau dasselbe Programm, aber zum Auftakt noch „Waltz for Debby“ und vor „Five“ noch „I Didn’t Know What Time It Was“ reingeschoben. Dennoch: die beiden Versionen der beiden „Heart“-Songs sind wahnsinnig gut – und in den Liner Notes (Marc Myers, Chuck Israels) herrscht auch der Ton vor, dass das hier die besten Aufnahmen dieses Trios seien. Israels längerer Text gibt ein paar Einblicke, er scheut auch nicht zurück, seine und „Scottys“ (die beiden waren wohl Freunde und nach dem Tod LaFaros war Israel zwar noch ein paar Monate in Europa unterwegs, war sich aber, wie er schreibt, ziemlich sicher, dass er den Job bei Evans nach seiner Rückkehr kriegen würde – und genau so kam es dann ja auch) Rolle bzw. „Leistung“ im Trio zu diskutieren … und macht v.a. einleuchtende Bemerkungen über die Rolle des Rhythmischen bei Evans, betont:
Larry Bunker said Bill was the most rhythmically inventive musician he ever heard. And I agree.
Whereas many jazz pianists‘ rhythm playing is pretty much all eighth notes, Bill’s grooves were eighth notes and quartet-note triplets and triplets and triplets again and triplets divided in duples and duple eighth notes divided and assembled in groups of threes. And that’s only really a simple, wildly oversimplified description of Bill’s rhythmic vocabulary.
Bill’s rhythmic approach was powerfully intellectual on the one hand, but so beautifully played and so integral to the way he thought and felt about music that I never experienced it as some kind of mathematical trick. But oh boy, does it sound interesting. And I always intuitively understood what he was doing. That was what made it possible for me to be the right bass player for him when Scotty died and Bill needed somebody. He certainly needed somebody who understood his rhythm. And while I was perhaps underprepared to understand the harmony and some other thing about the music, I understood the rhythm and the way he wanted to have a complimentary, contrapuntal bass part in his trio. That part was so natural for me that I spent three months traveling around Europe thinking, „Well, I’ll probably get back; I’ll probably have this job.“ It might have been arrogant, but it turned out to be right. It’s the rhythm, the rhythm and the rhythm – in that order – that made it possible.
~ Liner Notes von „Tales“, aus einem Interview, das Chuck Israels mit Zev Feldman führte (16. November 2021)
Anderswo gibt Israels freimütig zu, dass Bunker ihm musikalisch überlegen gewesen sei, dass dieser sich manchmal vor Beginn von Sessions ans Klavier gesetzt und gespielt habe: „‚Hey, Chuck, is this what Bill plays?‘ and he would play stuff that sounded great. I couldn’t have done that. He was so wonderfully inventive, so wonderfully integrated into the rhythm Bill developed. He made enormous contributions to my way of thinking.“
Bunkers Witwe wird auch noch zitiert – für diesen war die Zeit mit Evans und Israels wohl wie für letzteren auch die musikalisch glücklichste überhaupt. Was Evans angeht, wird herausgestrichen, dass er um die Zeit herum immer stärker den Drang entwickelte, seine Gefühle in Musik zu übersetzen, sie hörbar zu machen. Vielleicht ist es auch diese Unmittelbarkeit, die mir dieses Trio schon lange lieb macht? Ich weiss das nicht so genau, habe überhaupt über Evans noch gar nicht viel nachgedacht … anyway, „Tales“ ist toll, aber wie „Treasures“ (das ich weniger toll finde) eine Art Materialsammlung, die man vermutlich – trotz ihrer Kürze – gar nicht am Stück durchhören sollte.
McCoy Tyner – The Montreux Years | Keine Materialsammlungen sondern in der Regel sehr gut als Alben funktionierende Zusammenstellungen mit ausgewählten Highlights von Auftritten beim Montreux Jazz Festival bietet die seit ein paar Jahren laufende Reihe „The Montreux Years“, die ich im Lauf des Jahres etwas aufgestockt habe (Modern Jazz Quartet, Muddy Waters, Monty Alexander, Marianne Faithfull, Dr. John … bloss Nina Simone und Etta James hatte ich rasch nach ihrem Erscheinen gekauft, Michel Petrucciani fehlt mir noch). Auf dem Tyner-Album (sieben Tracks auf einer CD bzw. zwei LPs, 83:34 sagt mein CD-Player) gibt es Ausschnitte von drei Konzerte zu hören: 1981 war Tyner mit vier Saxophonisten (Paquito D’Rivera, Arthur Blythe, Chico Freeman und Joe Ford), Violine (John Blake) und Rhythmusgruppe (Avery Sharpe, Ronnie Burrage) da (zwei Stücke, ca. 24 Minuten, 1986 mit McCoy Tyner All Stars (Freddie Hubbard, Joe Henderson, John Scofield, Sharpe, Louis Hayes – zwei Stücke, knapp 20 Minuten … Hubbard und Scofield kriegt man gar nicht zu Gehör, s.u.) und 2009 mit dem Trio (Gerald Cannon, Eric Kamau Gravatt) und zwei Gästen (Gary Bartz, Bill Frisell), wovon es dann 40 Minuten gibt (drei Stücke, darunter ein tolles „Fly with the Wind“). Eher ungewohnt ist, dass es recht viel Gitarre zu hören gibt, doch das klappt irgendwie ganz gut, zumal wie meist eh wie ein zusätzliches Blasinstrument eingesetzt wird (also: klappt gut, wird dafür dem Instrument nicht gerecht, um die von @vorgarten gelernte Lektion einfliessen zu lassen – Nerd-Emoji hier … Frisells Solo in „Fly with the Wind“ ist aber auch so super).
Tyner selbst steht aber klar im Zentrum: der Opener, die „Latino Suite“, ist zum Beispiel das längere der zwei Stücke mit den All Stars, deren Kern ja einfach Tyners reguläres Trio der Zeit ist, und dieses kriegen wir hier zu hören. „Eternally Yours“, das zweite Stück auf dem Album ist das erste von 1981 und das zweite kurze, ist ein Klaviersolo. Auch die Band mit den vielen Saxophonen und der Violine von John Blake gibt es nur einmal zu hören – immerhin dann auf dem 16minütigen „Walk Spirit, Talk Spirit“, das auf das erste Stück der 2009er-Band folgt, das schon erwähnte phantastische „Fly with the Wind“.
Danach hören wir „Ask Me Now“ von den All-Stars – bzw. von Joe Henderson in Bestform mit Tyner am Klavier, eine wunderbare Duo-Version von diesem Monk-Stück, das Henderson sich angeeignet hat – die angekündigten All-Stars kriegen wir also nicht, Hubbard und Scofield tauchen gar nicht erst auf (ich wage zu behaupten: kein grosser Verlust) und auch die anderen vier hören wir nicht gemeinsam. Der Schluss, die letzten 23 Minuten, gehört dann der 2009er-Band, um deren Set herum das ganze Album quasi gebaut ist. Es gibt den rollenden Groove von „African Village“, wieder mit Frisell als linearer Stimme unisono mit Bartz und danach mit dem ersten Solo. Den Ausklang macht „Ballad for Aisha“ – und das ist eine echt gute, eingespielte Band, die nicht den wuchtigen Groove der grossen Tyner-Bands der Siebziger (was wir hier auf „Walk Spirit, Talk Spirit“ von 1981 kriegen ist quasi ein später Blick darauf) hat, aber eben doch nochmal was anderes brachte, als Tyner in den vielen Jahren dazwischen, oft im Trio, gemacht hat. (Leider schaffe ich mal wieder keine Suche in den Montreux-Archiven, da wurde ja mächtig umgebaut die letzten Jahre und mein Suchanlauf hier – https://database.montreuxjazz.com/concerts-database – dreht einfach ewig, wenn ich Tyner und ein passendes Jahr eingebe.)
--
"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #162: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records, 8.4., 22:00; # 163: 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba