Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › 2022 & 2023 & 2024: jazzgigs, -konzerte, -festivals › Antwort auf: 2022 & 2023 & 2024: jazzgigs, -konzerte, -festivals
Donnerstag, 2.11.2023
18:00 – Courvoisier / Halvorson
Sylvie Courvoisier – Klavier | Mary Halvorson – Gitarre
19:30 – „Apparitions“
NOVEMBRE: Romain Clerc-Renaud – Klavier, Komposition, Tasteninstrumente | Antonin-Tri Hoang – Altsaxofon, Komposition | Thibault Cellier – Kontrabass | Sylvain Darrifourcq – Schlagzeug || BRIBES: Linda Olah – Gesang, Elektronik | Geoffroy Gesser – Tenorsaxofon | Francesco Pastacaldi – Schlagzeug || Gulrim Choi – Cello | Adèle Viret – Cello | Myrtille Hetzel – Cello || Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin | Kapellknaben des Staats- und Domchor Berlin | Gudrun Luise Gierszal, Eva Spaeth – Leitung | Sitali Dewan – Assistenz
21:00 – Takase / von Schlippenbach: „Four Hands Piano Pieces“
Aki Takase – Klavier | Alexander von Schlippenbach – Klavier
Besuch aus Deutschland habe mal gefragt, ob die Anzeige „2 Minuten Verspätung“ bei den SBB ironisch gemeint sei, las ich heute Morgen irgendwo … eine Stunde zu spät kam ich in Berlin an, aber das war in etwa so eingeplant und es reichte, um gemütlich zum Haus der Berliner Festspielen zu gelangen, wo ein Frauen-Duo den Einstieg zum Jazzfest machte: die Lausanner Pianistin und Wahlnewyorkerin Sylvie Courvoisier und die US-Gitarristin Mary Halvorson. Das war ein recht verhaltener Einstieg, doch im Gegensatz zu anderen Sets vor allem am nächsten Abend wirkten die zwei auf der grossen Bühne nie verloren, wussten genau, was sie taten. Die Stücke waren meist – ganz wie erwartet – stark strukturiert, oft virtuos, rhythmisch zerklüftet, repetitiv … dabei fand ich gerade die Momente am stärksten, die entweder ruhiger waren – auch zwei jeweils recht lange solistische Passagen früh im Set – oder aber jene, in denen die Strukturen mal aufgebrochen und die Musik auf der Basis von Riffs weiterlief, in denen die zwei zu einem jazztypischen Playing fanden, von dem ich mir tatsächlich mehr gewünscht hätte. Mary Halvorson spielte immer wieder einer Art Zufallseffekt, der den Ton buchstäblich verrutschen liess – das führte in dieser für mein Empfinden oft etwas zu durchgetakteten Musik zu schönen Brechungen.
Nach einer ersten Pause folgte das Monsterprojekt des diesjährigen Jazzfest unter dem Titel Apparitions, für das ein Jazzquartett (Novembre) auf einen 30köpfigen Kinderchor stiess, dazu kam ein weiteres Jazz/Impro-Trio (Bribes) sowie ein Trio von Cellistinnen. Bespielt wurde der ganze Saal, das zweite Trio mit krawalligen Drums spielte auch durch geöffnete Türen aus dem Foyer in den Saal hinein, während die Cellistinnen seitlich im Parkett oder auf der Bühne Platz nahmen und der Kinderchor anfangs auf den seitlichen Enden und der ersten Reihe der Galerie stand. Los ging es erstmal mit dem Quartett, das ein paar Miniaturkompositionen von Antonin Tri-Hoang spielte, dessen Ansangen länger dauerten als die Musik. Ein netter Gag zum Einstieg eines Sets, das danach oft ans Triviale schrammte, was durchaus mit dem Kinderchor zu tun hatte (der allerdings über genügend Intonationsprobleme verfügte, damit keine vollkommen beschauliche Stimmung aufkommen konnte). Die instrumentalen Teile der Musik waren dabei ziemlich französisch. Das zweite Trio mit Francesco Pastacaldi als Krawalldrummer (ich hatte ihn ein paar Wochen davor in Lyon mit Eve Risser gehört, wo er viel weniger auffällig agiert hatte) und Geoffroy Gesser als wildem Spiritual/Free-Tenorsaxer hatte über weite Teile einen dankbaren Part: in rotes Licht getaucht spielte es durch die vorübergehend geöffneten Saaltüren als Störfaktor herein, bewegte sich auch danach freier als alle anderen Elemente des ganzen. Die Sängerin Linda Olah wirkte oft mit dem Kinderchor mit, der wohl so nach einer Viertelstunde zum ersten Mal auftauchte und für ein Segment auch mal in zwei Gruppen geteilt auf Zeichen der zwei Drummer hin gewisse Silben oder Laute anstimmte. Das war nun alles wirklich nicht schlecht, aber halt auch nicht wahnsinnig super – obwohl manche Leute im Saal (Eltern?) ganz gerührt waren, es stehende Ovationen gabe und Festivalintendantin Nadin Deventer, die das Set als eigentlichen Festivalauftakt angesagt hatte (was ich gegenüber Courvoisier/Halvorson als ziemlich unfreundlich empfand) auch am nächsten Tag keine Gelegenheit ausliess, zu betonen, wie schön die Aufführung gewesen sei.
Gut, es blieb also nach den ersten zwei Sets alles offen – und da keines der Spätkonzerte vom Donnerstag uns (vorgarten und mir) wirklich zwingend vorkam, blieb nur noch das dritte und letzte Set auf der grossen Bühne: Szenen einer Ehe möchte ich es überschreiben, das Klavierduo Aki Takase/Alexander von Schlippenbach – und es war besser, als ich erwartet hatte. Alexander Schlippenbach ist in den letzten 5-10 Jahren ziemlich alt geworden, scheint aber am Klavier nach wie vor sehr fit zu sein (beim spielen summt er oft ganz leise mit), was nicht zuletzt in einer irren Bach-Adaption am Ende des Konzerts zu erleben war, in der die beiden sich in einer Art mechanische Beschleunigungsekstase spielten. Davor hatte Aki Takase sich um den Ablauf des Sets gekümmert, obwohl Schlippenbach sich fast allein um die Ansagen kümmerte (Takase dafür um das Mikrophon, das er dafür zu verwenden hatte). Die zwei spielten meist an zwei zusammengeschobenen Flügeln, Takase links, Schlippenbach rechts. Es gab ein paar humoristische Einlage, trockensten Humor auch in Schlippenbachs Ansagen, etwas Comedy in Takases Auftritt bzw. Abgang, als sie sich mit Kostüum und Hütchen für Schlippenbachs Solos auf einem Stuhl im Halbschatten hinter den beiden Steinway-Ungetümen drapierte. Danach spielte sie ihr eigenes Solo, eine sehr schöne Version von „Ida Lupino“, natürlich der bewunderten, kürzlich verstorbenen Carla Bley gewidmet. Auch auf dem Programm stand das Arrangement eines Stücks von Schlippenbachs einstigem Kölner Lehrer Bernd Alois Zimmermann. Das gelöste, unterhaltsame, abwechslungsreiche Duo-Set stimmte mich jedenfalls zum Ausklang des ersten Abends ganz versöhnlich.
Freitag, 3.11.2023
17:30 – Nancy Mounir: „Nozhet El Nofous“
Nancy Mounir – Violine, Theremin, verschiedene Instrumente | Youssra El Hawary – Akkordeon | Nadia Safwat – Trompete | Thodoris Ziarkas – Kontrabass | Mounir Maher – Klavier || Lokale Musiker*innen: Meike-Lu Schneider – Violine | Julia Brüssel – Violine | Maria Reich – Viola | Anil Eraslan – Cello || Ebaa Eltamami, Haitham El Wardany – Sprecher*innen | Katia Halls – Untertitel
18:45 – Frith / Santos Silva / Portugal: „Laying Demons to Rest“
Fred Frith – E-Gitarre | Susana Santos Silva – Trompete | Mariá Portugal – Schlagzeug
20:00 – Paal Nilssen-Love: „Circus“
Juliana Venter – Gesang | Thomas Johansson – Trompete | Signe Emmeluth – Altsaxofon | Oddrun Lilja Jonsdottir – Gitarre | Kalle Moberg – Akkordeon | Christian Meaas Svendsen – Kontrabass | Paal Nilssen-Love – Schlagzeug
Bevor es zum zweiten Abend in den Saal ging, kriegten wir noch den Artists‘ Talk mit Paal Nilssen-Love, Mike Reed und Susana Santos Silva mit, bei dem Nadin Deventer den dreien eine einzige, allerdings ca. siebzehnteilige Frage stellte … worauf die drei drei Reihe nach über ihrer Werdegang berichteten. Reed, wie er noch jung in Chicago draussen eine Reggae-Band hörte und deren Drummer ziemlich toll fand – und ihn zehn Jahre in Hamid Drake wiedererkannte; Santos Silva, wie sie nach akademischen Studien aus Portugal ausbrechen und sich in den Niederlanden und später in Schweden erst selbst finden musste; und Nilssen-Love, wie er im väterlichen Jazzclub alle grossen Jazzdrummer ausser Elvin Jones erleben konnte und – darin Reed ähnlich – einen völlig unakademischen Zugang pflegt. Gute Gespräche gab es beim Jazzfest dieses Jahr leider nicht – das scheint weder eine Stärke von Deventer noch von ihrem Sidekick Peter Margasak. Aber wenn die Gäste ins Reden kommen, kann das ja nichtsdestotrotz unterhaltsam und informativ werden.
Den Auftakt machte eine Multimedia-Performance der ägyptischen Musikerin Nancy Mounir, die für mich nicht so richtig abheben wollte, obwohl hier ganz viel zusammenkam. Ausganspunkt sind alte Schellackplatten von Sänger*innen aus den 20ern und frühen 30ern, deren Gesangspraktiken mit dem Kongress der arabischen Musik in Kairo ihr Ende fanden. Mounir grub diese alten Aufnahmen mit oft mikrotonalem Gesang wieder aus, schrieb um sie herum Arrangements für ihr Quintett, das über weite Strecken sehr zurückhalten eingesetzt wurde. Dazu kamen ein Streichquartett, an einem Tisch gezeigte Archivmaterialien – Fotos, Texte – die von den Sprecher*innen in eine Kamera gehalten wurden, die direkt an die Bühnenrückwand projiziert wurden. Mounir selbst dirigierte das Ensemble quasi mithilfe eines Theremins, liess dieses oft zu einer Art weiteren Gesangsstimme werden, die mit der Band und dem Band verschmolz, das recht ebenmässige Kontinuum des Sets aber auch auf reizvolle Art kontrastierte. Je länger das Set dauerte, desto wichtiger wurden die Parts der Sprecherin, die auch in Rollen schlüpfte, und des Sprechers, der mehr und mehr zum Erzähler wurde. Musikalische Verdichtungen gab es allerdings nicht und dafür, einen richtigen Sog zu entwickeln war das ganze in der Anlage etwas zu still, in der Stimmung zu getragen. Manche der erzählten Geschichten (dank eingeblendeter Untertitel auch für unsereins verständlich) waren allerdings sehr berührend – und das Archivmaterial entwickelte seinen eigenen Sog.
Nach einer Pause ging es im Trio weiter – ich hatte mir naiverweise erhofft, nach dem guten Set vom Anthony Braxton Quartett im Herbst 2022 in Zürich hier die Schlagzeugerin Mariá Portugal etwas freier oder befreiter hören zu können. Doch das erwies sich leider als Trugschluss. Das Set geriet sehr introspektiv und ruhig, Susana Santos Silva und Fred Frith horchten den Tönen nach, spielten mit Geräuschen, mit Effektpedalen, mit tonlos durch die Trompete geblasener Atemluft – und Portugal setzte über das ganze Set keine eigenen Akzente, ging einfach es mit mit dem, was ich beim besten Willen keinen „Flow“ nennen kann. Das war zwar klanglich oft richtig schön, was dieses Trio spielte, aber zu überzeugen vermochte es leider wirklich nicht.
Dass die Gruppe „Circus“ von Paal Nilssen-Love die Beschaulichkeit aus dem Saal vertreiben würde, war mir eigentlich völlig klar – aber nicht, wie sie das tun sollte. Drei junge Musikerinnen und drei junge Musiker hatte der Papa am Schlagzeug um sich geschart, das Septet gestaltete ein lebendiges Set, wie schon die zwei Gruppen davor auch ohne Unterbrüche. Druckvoll war das, lebendig, oft mitreissend, in einem ständigen Auf und Ab, mit riffenden Bläsern, einer verzerrten Gitarre (ein krasses Solo spät im Set), mit heftigen Beats und einem pulsierenden Bass – und einem ziemlich irren Akkordeon und einer mich total beeindruckenden Sängerin (plus ein irrer Hüpfe-Tanz im Dunkeln vorn auf der Bühne zu Beginn – die vom Licht waren wohl grad rauchen, aber das passte irgendwie super), die sich bestens in Ensemble einbringen konnte und mit diesem oft völlig verschmolz. Auch im zweiten Block des Hauptprogramms war es also das dritte Set, das den Abend irgendwie herausgerissen hat. (Zweites Foto von oben: Paal Nilssen-Loves „Circus“ beim Schlussapplaus – das Licht im Saal war generell so kontrastreich, dass die Handykamera nicht zu viel taugte, meist hatten wir aber trotz guter Plätze eh zuviele Köpfe zwischen uns und der Bühne, als dass es gelohnt hätte, Schnappschüsse zu machen.)
Doch der Abend war noch nicht zu Ende, nach einer längeren Paus ging es im geöffneten, sehr grossen Bühnenraum des Festspielhauses mit Chicago-Programm weiter.
Doch dazwischen gab es noch einen Artists‘ Talk mit Henry Threadgill – dieses Mal mit Peter Margasak, der ein paar Stichworte gab, über die krasse Vietnam-Story Threadgills zusammen mit dem Publikum weglachte – obwohl einem doch das Blut in den Adern gefrieren musste. Das war jedenfalls einmal mehr ein quasi unmoderiertes, dieses mal aber wirklich unterhaltsames Gespräch. (Foto unten vom Gespräch mit Threadgill in der Kassenhalle des Festspielhauses.)
21:30 – Sonic Dreams: Chicago
Mike Reed „The Separatist Party“: Mike Reed – Schlagzeug | Rob Frye – Tenorsaxofon, Flöte, Schlagzeug | Cooper Crain – Gitarre, Sythesizer | Dan Quinlivan – Synthesizer | Marvin Tate – Spoken Word | Ben LaMar Gay – Kornett, Flügelhorn, Perkussion
Brown / Abrams / Reed: Ari Brown – Tenorsaxofon | Joshua Abrams – Kontrabass | Mike Reed – Schlagzeug
Bitchin Bajas: Cooper Crain – Tasteninstrumente | Dan Quinlivan – Tasteninstrumente | Rob Frye – Tasteninstrumente, Holzblasinstrumente
Natural Information Society: Joshua Abrams – Gimbri | Lisa Alvarado – Harmonium | Jason Stein – Bassklarinette | Ben LaMar Gay – Kornett, Flügelhorn, Perkussion | Mikel Avery – Perkussion || Ari Brown – Special guest am Tenorsaxofon || Lokale Musiker*innen: Anna Kaluza – Altsaxofon | Mia Dyberg – Altsaxofon | Axel Dörner – Trompete
@friedrich, der Sonic Dreams: Chicago auch dabei war, liess uns dann wissen, dass es drüben bereits losging – als wir auf die Bühne kamen, war das Set von Mike Reeds „The Separatist Party“ tatsächlich bereits im Gang. Reed hämmerte die Beats, Marvin Tate die Worte, das Trio Bitchin Bajas sorgte für satte Grooves (mit ts/fl, g, synth, wenn ich das richtig hörte), Ben LaMar Gay steuerte am Kornett hübsche Girlanden bei, manchmal mit Punch, dann wieder eher etwas belanglos. Und so war vielleicht das ganze Set: trotz der peitschenden Worte und Beats ging das meist eher in den Magen als in den Kopf, funktionierte tatsächlich als Partymusik (die Menschen drängten sich stehend auf der Hinterbühne).
Reed zog sann mit irgendeinem Instrument mitten durch die Leute zu einer anderen Ecke der Bühne, und es folgte ein kleines Festivalhighlight, das vielleicht zehn Minuten dauerte und nicht angekündigt war: eine längere Trio-Improvisation mit dem Tenorsaxophonisten Ari Brown (der davor beim Gespräch mit Threadgill in der ersten Reihe gesessen hatte), Joshua Abrams am Kontrabass und Mike Reed am Schlagzeug, jetzt wieder mehr Jazz- als Hip-Hop-Drummer). Browns Ton erinnerte an die grossen Vorbilder aus Chicago (Ammons, Freeman) aber auch an die vokalen inflections von Yusef Lateef. Ein sehr zarter und vielleicht gerade darum so starker kurzer Auftritt.
In der Zwischenzeit hatte sich in wieder einer anderen Ecke Bitchin Bajas hinter seinen Synthesizern installiert. Jetzt wurde die Hinterbühne wirklich zur Partylocation, die Leute verteilten sich etwas, sassen auch am Boden, unterhielten sich, während das Trio seine sphärischen Klänge präsentierte. Auch wir gingen erstmal kurz nach Draussen und setzten uns danach am anderen Ende des Raumes in die Nähe der grossen Bühne, die schon für die Natural Information Society vorbereitet war, die in einer grossen Besetzung mit Ari Brown und drei deutschen Gästen den Abend beschliessen sollte.
Dieses letzte Set war dann wieder ein ausgereiftes, wie das von Reed zu Beginn: die Natural Information Society von Joshua Abrams. Es hatte wohl eine Probe oder zumindest ein paar Absprachen gegeben. Im Gegensatz zu William Parker, der in Berlin dieses Jahr zwar keine Gimbri spielen sollte (ich hörte ihn aber im Oktober ausgiebig, als er mit Vicente-Dikeman-Parker-Drake Rupert Julians „Le Fantôme de l’Opéra“ begleitete, siehe unten), dies aber sehr melodisch tut, klingt das Instrument bei Josh Abrams derart wüst verzerrt, dass es eigentlich nur rhythmische Impulse, keine Töne erzeugen kann. Mich langweilt die Band ja leider sehr (vor sechs oder sieben Jahren mal in Zürich in der Standard-Quartettbesetzung gehört, seither mache ich eher einen Bogen um sie), aber mit den Gästen – zu denen notabene auch Ben LaMar Gay gehört, die Line-Ups habe ich von der Website der Berliner Festspiele kopiert und nur das nötigste korrigiert/ergänzt, Gay wird dort als Teil der eigentlichen Band geführt, wohl weil er halt kein „special“ sondern nur ein normaler Gast war – klappte das irgendwie doch ganz gut. Im Zentrum Mikel Avery, links von ihm Jason Stein, rechts Abrams. Neben Stein zwei weitere Bläser (Gay und einer der Berlinerinnen) und das Harmonium, rechts neben Abrams die restlichen Bläser: Ari Brown, Axel Dörner und die andere Berlinerin (ich kenne beide nicht, weiss leider nicht, welche wo gesessen ist). Schnell wird klar, dass mit den ganzen Gästen mehr läuft als im Quartett, auch Jason Stein setzte Mal zu einem Solo an, doch meistens sind es Brown und Dörner, die aus dem Groove ausbrechen, über diesen ein paar solistische Schlenker setzen. Dörner mit seiner Zugtrompete oft ähnlich vokal wie Brown, der zwar vor dem Set völlgi für sich auf der Bühne sass, aber nun Kontakt zu Dörner sucht, was dieser aber über das ganze Set und dessen Ende hinaus völlig ignoriert. Die Grooves kommen dabei nicht nur von Abrams sondern besonders auch von Avery, der mit einer enormen Physis stets gleichbleibende, nie laut oder dicht werdende Beats über die Bühne ins Publikum rollen lässt. Die Bläser riffen dazu, das Harmonium und die Bassklarinette pumpen – und ein paar Male überkommt mich der Gedanke, warum die nicht einfach in einen wilden Afrobeat ausbrechen und diese selbstgewählte, irgendwie im Meditativen verbleibende Gefängnis wenigstens mal für einige Minuten verlassen können.
Aber gut, dieser Chicago-Block war als ganzes schon sehr schön, hat auch als ganzer Block hervorragend funktioniert – was man von den Blöcken auf der Hauptbühne für die diesjährige Ausgabe nicht so wirklich behaupten kann.
Samstag, 4.11.2023
17:00 – Marlies Debacker solo
Marlies Debacker – Klavier
18:30 – Ellen Arkbro & Johan Graden „I get along without you very well“
Ellen Arkbro – Gesang, Trompete | Johan Graden – Klavier, Sythesizer, Klarinette | Lucy Railton – Cello
Petter Eldh – Kontrabass | Michiko Ogawa – Klarinette | Nabou Claerhout – Posaune | Konrad Agnas – Schlagzeug
20:00 – The Creative Music Universe of Henry Threadgill: Zooid meets Potsa Lotsa XL
Zooid: Henry Threadgill – Altsaxofon, Flöte, Komposition | Liberty Ellman – Akustik-Gitarre | Christopher Hoffman – Cello | José Davila – Tuba | Elliot Humberto Kavee – Schlagzeug, Perkussion || Potsa Lotsa XL: Silke Eberhard – Altsaxofon | Jürgen Kupke – Klarinette | Patrick Braun – Tenorsaxofon, Klarinette | Nikolaus Neuser – Trompete | Gerhard Gschlößl – Posaune | Johannes Fink – Cello | Taiko Saito – Vibrafon | Antonis Anissegos – Klavier | Igor Spallati – Kontrabass | Kay Lübke – Schlagzeug || Silke Lange – Dirigentin
Auch am dritten Abend hatten wir wieder ein Zweierpaket gebucht: nach dem Programm auf der Hauptbühne gab es zwei weitere Blöcke auf der Seitenbühne (Irreversible Entanglements und Clay Kin) bzw. in der Kassenhalle, wofür wir uns entschieden hatten. Los ging es im grossen Saal wieder eher schwierig. Die ersten zwei Sets wurden nur mit kurzer Pause, um den Flügel rauszuschieben aneinandergehängt, weil das dritte dann live im Radio gesendet und drum pünktlich um 20:05 nach den Nachrichten zu beginnen hatte.
Die belgische Pianistin Marlies Debacker – gertenschlank, blonder Bob, schwarzweisses Konzeptkleid – legte einen vollkommen durchdachten Auftritt hin. Ein einerseits fast ereignisloses Set, das konsequenterweise ordentliche Längen aufwiese, andererseits aber eine kompromisslos durchgezogene Performance, was wiederum durchaus eindrücklick war. Ein tiefer Ton, ein hoher Ton, lange Pause nach jedem Anschlag, den Tönen nachhorchen bis kurz vor ihrem Verklingen … allmähliche, kaum sprübare Verdichtungen, Beschleunigungen, irgendwann der Bruch aus der Meditation in die Aggression, Cluster, Handrücken, der Flügel keucht und stönt – aber wie gestimmte Trommeln klingt er in diesem Set eher, wenn er ganz langsam bespielt wird. Ob das jetzt gut oder schlecht war? Ich weiss es beim besten Willen nicht.
Dass das folgende Set von Ellen Arkbro/Johan Graden überhaupt nicht gut war, war aber umso schmerzhafter bald klar. Sanftklingende Lieder über Trennungen, Liebeskummer, Weltschmerz – nordische Wohlfühlmusik, die sich in ihrer Pose ungemein gut gefiel. In der Gestik war das alles ganz gross. Der Drummer bewegte sich, als würde sein Spiel bald das Dach zum Einsturz bringen – doch er schabte nur leise auf den Fellen oder liess die Becken wie Glöcklein klingen. Die Sängerin hauchte ins Mikrophon, dass ich mich fragte, ob sie ohne überhaupt eine Stimme hätte – und wenn sie mit grosser Geste die Trompete ansetzte … traf sie die drei Töne nicht, die sie leise spielte. Petter Eldh spielte derweil am Bass repetitive Riffs, die manchmal immerhin rhythmisch aus dem Rahmen fielen und ganz fein am Wohlklang schabten. Dass es da auch keinen Ausbruch (ausser den durch die Saaltür – aber wir sassen mittendrin und irgendwie war das alles ja auch lähmend) möglich war, wurde ebenfalls rasch klar. Immerhin setzte die PoC-Posaunistin (speaking of clichés) mal ein kurzes Ausrufezeichen mit einer feinen kurzen Improvisation. In der Diskussion über die beiden Sets tauchte schnell die Frage auf, ob manche Acts nicht an den falschen Locations programmiert waren. Ich war ja z.B. froh, Zoh Amba nicht auf der grossen Bühne zum ersten Mal zu erleben, aber sie hätte auch da bestimmt einen sehr viel besseren Eindruck hinterlassen als die Schüler*innenband von Arkbro/Graden. Der Titel des Projekts, „I get along without you very well“, sollte sich als ziemlich zutreffend entpuppen.
Auch hier ruhte die Hoffnung also wieder auf dem dritten Set – und dieses war tatsächlich ganz gut. Henry Threadgills Zooid hatte ich vor einem Jahrzehnt oder so mal in Amsterdam gehört, damals noch mit Stomu Takeishi an der akustischen Bassgitarre statt José Davila (der im Gegensatz zur Ankündigung keine Posaune dabei hatte, ebensowenig wie Threadgill eine Altflöte). Dass durch die Präsenz der ganzen Silke Eberhard Potsa Lotsa XL Crew quasi eine doppelte Rhythmusgruppe – zwei Schlagzeuger, Tuba und Kontrabass, akustische Gitarre und Piano/Vibraphon – auf der Bühne stand, war kein Problem. Threadgills Stück liess viel Raum für Soli, war aber auch klar durchgetaktet und so arrangiert, dass sich die Musiker*innen nie in die Quere kamen. Er hat ja in den letzten Jahren neben der Arbeit mit Zooid auch selbst ein paar Alben mit grösseren Besetzungen herausgebracht, nicht zuletzt sein jüngstes, „The Other One“. Eberhard spielte das erste Solo – und es sollte leider auch ihr einziges bleiben. Eine dichte, klischeefreie Improvisation, die von den Linien her etwas an Konitz und Dolphy, vom Ton her auch an Desmond denken liess – eine Mischung, die mir so gut gefiel, dass ich inzwischen schon die zwei Alben ihres Trios auf Intakt angeschafft habe. Der Schlagzeuger des Trios, Kay Lübke, glänzte seinerseits mit einem phantastischen Solo – wie auch andere Musiker aus Eberhards Band, besonders Jürgen Kupke, der ein irres Klarinettensolo spielte, in dem er quasi in drei oder vier Minuten die Jazzgeschichte verdichtete, sich aus Trad-Riffs freispielte in immer frenetischere Gefilde auf einen Höhepunkt zusteuernd, der auch einen Höhepunkt des Sets markierte. Insgesamt blieb aber auch dieses Set nicht ganz ohne Zwiespalt, das Gefüge aus Komposition und Solo-Reigen war dann am Ende halt doch nicht so originell. Allerdings war es schön, Threadgill auch selbst mal wieder spielen zu hören – er überlässt ja inzwischen auch auf seinen Alben den Platz gerne ganz den jüngeren Musikern, die er um sich schart (Frauen sind da glaub ich höchst selten dabei: Stephanie Richards war mal dabei, die Trompeterin, die wir in Berlin verpassten, wo sie parallel zum Chicago-Programm im Quasimodo gespielt hat; auf dem jüngsten Album sind neben Sara Schoenbeck auch noch drei Streicherinnen dabei, die mit Christopher Hoffman ein cellolastiges Streichquartett bilden; Frauen sind seltsamerweise auch bei Silke Eberhard stark in der Minderzahl, neben ihr selbst ist da nur die Vibraphonistin Taiko Saito, die demnächst hier in Zürich beim Unerhört wieder spielt – weiss ich noch nicht, ob das schaffe, vermutlich eher nicht).
PS: In der Pause hatten wir draussen einen Doppelgänger von John McLaughlin entdeckt – bloss um später auf seinem Instagram-Account nachzulesen, dass er tatsächlich zum Jazzfest gekommen war und dort Fotos vom Threadgill-Konzert und gemeinsame Backstage-Fotos zu finden.
22:00 – Kaja Draksler: „matter 100“
Lena Hessels – Gesang | Andy Moor – Gitarre | Marta Warelis – Keyboards | Kaja Draksler – Keyboards, Klavier | Samo Kutin – präparierte Drehleier | Macio Moretti – Schlagzeug
23:30 – Amba / Cajado / Takara
Zoh Amba – Tenorsaxofon, Klavier | Vinicius Cajado – Kontrabass | Mauricio Takara – Schlagzeug
Das Spätprogramm bot dann zwei Sets mit Pause in der Kassenhalle, in der der Sound (oder die Soundanlage?) leider nicht besonders gut ist. Das neue Projekt von Kaja Draksler mit älterem Gitarrenpunk in der Mitte einer jungen Band zwei Synthesizern (Draksler selbst spielte mehrheitlich ein Upright-Piano), Gesang, Drums und einer präparierten, vermutlich selbstgebauten Drehleiher, war aber eh eher schwierig, was die Balance angeht. Als Set fand ich das ziemlich gut, mit dem Krawallfaktor von Moor erinnerte es mich ein wenig an das Set von Brique mit Eve Risser und Moors Bandkollegen Luc Ex in Lyon vor ein paar Wochen – doch wenn es dort in Richtung Klassik und neue Musik ging, ging es hier eher in Richtung Punk und Pop. Das Set entwickelte zumindest ab und zu – besonders in der sehr langen letzten Nummer – eine Art Sog, wie er mir anderswo beim Festival, wo es ihn hätte geben können (Nancy Mounir, die Schneeflocken-Weltschmerz-Truppe aus dem hohen Norden) völlig fehlte.
Dass es danach wuchtiger zu und hergehen würde, konnte man schon in der Pause erahnen, denn die lauten Feedback-Geräusche, die der Kontrabass da erzeugte, erwiesen sich nicht als Problem der Ton-Crew sondern als ein Element, das Vinicius Cajado ins irre heftige Set mit Zoh Amba einbauen sollte. Diese legte am Tenorsaxophon umgehend los, ein Kaltstart von Null auf Hundert, getrieben, gejagt, umspielt von der fabelhaften brasilianischen wahlberliner Rhythmusgruppe mit Cajado und dem ebenfalls hervorragend aufspielenden Mauricio Takara. Die Musik bewegte sich irgendwo zwischen Albert Ayler und dem heftigsten vorstellbaren Spiritual Jazz der Gegenwart. Und als Amba nach 20 oder 25 Minuten an einem toten Punkt angelangt war, setzte sich sich ans Klavier, das als einziges Requisit von der Draksler-Band noch auf der Bühne stand. Das erinnerte natürlich an Charles Gayle (den ich leider nie live gehört habe), ergab aber wirklich sinn (und ich bleibe dabei, dass ich es nicht für Zufall halte, dass das Klavier stehengeblieben ist – die Mikrophone waren ja auch nach wie vor da und falls nicht eh die ganze Zeit eingeschaltet zumindest noch angeschlossen und einsatzbereit). Bei Amba ist natürlich die Erscheinung krass: sie ist klein, schlank – und holt diesen immens kraftvollen Sound aus dem Instrument heraus. Mit den Brasilianern auf der Bühne musste ich auch mal an Ivo Perelman denken, der seinen Power-Sound wie mir scheint sehr viel stärker kontrolliert, aber einen ähnliche Wucht entwickeln kann. Ob das alles nur ein hipper fad ist, weiss ich natürlich auch nicht (viel vom Spiritual Jazz der letzten zehn Jahre halte ich dafür), aber ich hoffe, denke es in diesem Fall wirklich nicht. Zoh Amba war auf jeden Fall neben Silke Eberhard die Entdeckung, die ich beim Jazzfest machte (mit Ankündigung, klar – es war @redbeansandrice, der sie hier im Forum vor einiger Zeit schon mal vorgestellt hatte?).
Sonntag, 5.11.2023
15:00 – Ambarchi / Berthling / Werliin „Ghosted“
Oren Ambarchi – Gitarre, Elektronik | Johan Berthling – Kontrabass, E-Bass | Andreas Werliin – Schlagzeug
Der Sonntag ging dann richtig toll los. In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche spielte das Trio „Ghosted“ um Oren Ambarchi ein Set, das auch in dem Raum perfekt zur Geltung kam. Schade höchstens, dass das Licht fürs Konzert nicht etwas gedimmt wurde. Ambarchi sass hinter einem Tisch voller Equipment, spielte oft nur mit der linken Hand (er ist Linkshänder bzw. spielt eine linkshändige Gitarre) auf den offenen Saiten und bearbeitete mit der Rechten die Sounds, die manchmal wohl auch erst mit einiger Verzögerung „eingemischt“ wurden. Neben ihm ein Leslie-Verstärker, der für zusätzliches Wabern sorgte, wo schon die ganze Elektronik die Klänge oft Flirren liessen. Johan Berthling wechselte für seine resonanten Bass-Riffs zwischen Kontrabass und E-Bass hin und her, Andreas Werliin sorgt an Drum-Kit und mehr (war er es, der eine Conga ins Kit eingebaut hatte, direkt hinter – oder sogar anstatt – der Snare?) für die passenden Grooves. Das war zugleich sehr frei, aber mit den Riffs und Ostinati eben auch Groove-Musik – ein Set, das den durch das umwerfende Album geweckten Erwartungen für mein Empfinden mehr als gerecht wurde – ich war danach jedenfalls so glücklich, wie bis dahin nicht bei diesem Festival.
Wir spazierten dann rüber zum Haus der Festspiele, wo der Artists‘ Talk mit Eve Risser bereits im Gang war, als wir ankamen. Risser sass bei Deventer – nicht wie angekündigt Joyce Moreno, die später auch mitteilte, sie habe sich auf der langen Europa-Tour, die mit dem Auftritt in Berlin endete, erkältet. Von bzw. über Risser erfuhr ich dabei nichts Neues – aber das ist nach drei wortreichen Konzerteinführungen in Lyon von einem passionierten intellektuellen Gebrauchspoeten à la française wenig überraschend.
17:00 – McHenry / Cyrille: „Proximity“
Bill McHenry – Tenorsaxofon | Andrew Cyrille – Schlagzeug
18:30 – Eve Risser Red Desert Orchestra: „Eurythmia“
Eve Risser – Komposition, Klavier | Antonin-Tri Hoang – Altsaxofon, analoger Synthesizer | Sakina Abdou – Tenorsaxofon | Grégoire Tirtiaux – Baritonsaxofon, Qarqabas | Susana Santos Silva – Trompete | Matthias Müller – Posaune | Tatiana Paris – E-Gitarre | Ophélia Hié – Balafon | Mélissa Hié – Balafon, Djembé | David Merlo – E-Bass | Oumarou Bambara – Djembé, Bara | Emmanuel Scarpa – Schlagzeug
20:00 – Bauer / Parker / Drake
Conny Bauer – Posaune | William Parker – Kontrabass | Hamid Drake – Schlagzeug
21:30 – Joyce Moreno „Natureza“
Joyce Moreno – Gesang, Gitarre | Tutty Moreno – Schlagzeug | Rodolfo Stroeter – Kontrabass | Helio Alves – Klavier | Tom Andrade – Perkussion
Auf der Hauptbühne gab es am letzten Abend gleich vier Sets – da wir das Spätprogramm wieder bleiben liessen, war das auch der Festival-Ausklang. Der war lange Zeit super, um dann mit einer etwas traurigen Note zu enden. Bill McHenry war mir völlig unbekannt, und ich brauchte ein paar Minuten, um mich mit seinem etwas einfachen Ton und seinen sehr stringenten Linien anzufreunden. Doch nach zwei Stücken war klar: sein Duo mit Andrew Cyrille ist eine richtig gute Idee und funktioniert nahezu perfekt. Der Drummer, der am 10. November 84 Jahre alt wurde, zeigte sich in Höchstform. Sein Spiel wirkte gleichzeitig sehr kontrolliert und sehr frei, und stets unglaublich nuanciert. Henrys etwas gar gradliniges Spiel verdichtete sich mit Verlauf des Sets mehr und mehr, sein Ton wurde rauher, vielschichtiger, seine Linien schienen oft mit Cyrilles Rhythmen zu tanzen, mit der Zeit wurde das wirklich atemberaubend toll – ein durchgestaltetes, beeindruckendes Set. Und eine immense Freude, diesen grossen Drummer aus der Nähe in so einem Rahmen erleben zu dürfen.
Mit zwei tollen Sets zum Einstieg war der Tag schon ganz anders als die drei Tage davor – und die Hoffnung, dass er gut weiterlaufen würde, erwies sich nicht als vergebens. Das grosse Eve Rissers Red Desert Orchestra mit afrikanischem Einschlag und immer wieder wild überbordenden Passagen spielte ein weiteres gutes, wenn auch nicht überragendes Set. Susana Santos Silva übernahm den Posten an der Trompete (als Festivalgast, nehme ich an) – und legte bei ihrem einen Solo-Spot mit ziemlich flashy … ich dachte zwischendurch mal an Woody Shaw, @vorgarten meinte in der Pause Lester Bowie, und das trifft es wohl besser. Die Band lieferte vermutlich nicht ganz ihr bestes – so finde ich Sakina Abdou auf dem Album besser, als sie beim Konzert rüberkam. Aber das Set machte grossen Spass, die Musik war abwechslungsreich und bunt, wozu natürlich die Hié-Schwestern an ihren Balafons und die afrikanische Percussion beitrug, aber auch die Gitarre von Tatiana Paris, die analogen Synthesizer von Antonin Tri-Hoang (der die Band beim Konzert mit dem Kinderchor geleitet hatte und auch 2016 schon beim White Desert Orchestra beim Jazzfest Berlin dabei war, damals noch viel … akademischer im Approach), aber auch der trockene E-Bass von David Merlo und die Drums von Emmanuel Scarpa, den ich in Lyon in einem sehr speziellen Solo-Set als Vorband von Brique mit Risser gehört hatte.
Für das nächste Set waren die Erwartungen dann wieder maximal: es war das Preisträgerkonzert des neuen Albert-Mangelsdorff-Preisträgers. Dieser Preis wurde Conny Bauer am Nachmittag verliehen und Bert Noglik hielt vor dem Konzert eine furchtbare aber zum Glück kurze, einstudierte Laudatio voller leerer Worthülsen. Die Musik war dann alles andere als leer. Die drei kamen auf die Bühne und spielten – und ihr Set war wirklich wunderbar. Bauer an der Posaune immer noch topfit, das Trio funktionierte schon irgendwie nach dem Schema (Bläser-)Solist und Begleiter, aber dann auch wieder überhaupt nicht: alle drei spielten mehr oder weniger durch, ihre Stimmen verwoben sich wunderbar, das war atmender, melodiöser Free Jazz voller Überraschungen und doch irgendwie auch sehr behaglich, irgendwie nostalgisch und eben doch auch Musik aus dem Moment und so gesehen eben auch relevant, berührend, bewegend. William Parker spielte ein blankpoliert glänzendes aufgeräumtes Instrument – und wirkte wie schon beim erwähnte Stummfilm-Set in Zürich im Oktober hellwach und sehr beweglich – wirklich eine Freude (und beweglich wirkte er auch körperlich, er scheint sein Übergewicht der letzten Jahre stark verringert zu haben). So war auch das Zusammenspielt mit Hamid Drake stets auf der Kante, ständig in Bewegung. Die camaraderie der drei wurde auch beim verdient grossen Schlussapplaus deutlich, Drake drückte Bauer einen Kuss auf die Stirn und am Ende standen sie zu dritt Arm in Arm auf der Bühne – aber da hatte ich mein Handy wieder weggelegt und klatsche mit.
Es folgte noch ein Set – doch davor schon begann leider der grosse Exodus. Nach der letzten Pause war der Saal wohl nur noch ca. zu einem Viertel voll. Das war schade, aber dass das letzte Konzert so auch irgendwie von den Umständen her einen wehmütigen Beigeschmack hatte – was wohl auch über die Musik und die Karriere der Sängerin Joyce Moreno gesagt werden kann – passte dann doch irgendwie, denn die vier Tage gingen wahnsinnig schnell vorbei und waren viel zu kurz … einen Besuch bei der von Jason Moran gemeinsam mit Paola Malavassi, der Direktorin vom Kunstmuseum DAS MINKS in Potsdam kuratierten Ausstellung über Louis Armstrongs Tournee durch die DDR im Jahr 1965 nahm ich in Sachen Jazz auch noch mit … und einen dicken Band über Jazz in Berlin schleppte mich mit nach Hause – und kam noch nicht einmal dazu, ihn zu öffnen.
Aber zurück zu Joyce Moreno: das geplante, damals nicht erschienene Debutalbum der Sängerin aus den frühen Siebzigern wurde letztes Jahr doch noch aufgelegt, „Natureza“, arrangiert von Claus Ogerman. Musik von diesem Album sowie weiteres Material – auch einen Jobim-Song – stand auf dem Programm, Moreno begleitete sich dabei höchst effektiv an einem hässlichen Gitarrencomputer oder wie man das Ding halt nennen mag (Synthesizer kann man ja nicht nur mit Tasten bedienen – es klang zum Glück ganz okay) und hatte eine Band hinter sich, die mit den fast konstant schnellen Tempi virtuos umzugehen wusste, besonders Helio Alves am Klavier gelangen auch solistische Passagen, die bei aller Rasanz nicht aus der getragenen Stimmung des Sets ausbrachen. Allerdings war auch dieses letzte Set – leider obendrein mit einer nicht perfekt disponierten, ziemlich heiser klingenden Joyce – vermutlich ein Programmfehler: entweder hätte sie nicht an den Schluss gesetzt werden dürfen, oder sie hätte für eine kleinere Location gebucht werden müssen. So, vor halbleeren Rängen, die sich zudem im Lauf des Sets weiter leerten, war das ziemlich trist – auch wenn die Band ihr Ding durchzog – wobei das lange Set (das längste meines ganzen Festivalprogramms, vermute ich) manchmal auch etwas gar routiniert wirkte. Dennoch ein ganz schöner Ausklang, der melancholisch in die regnerische Nacht entliess.
—
Da ein Fazit zu ziehen fällt mir nicht leicht. Als eine Art „Leistungsschau“ des aktuellen Jazzschaffens war das Programm alles in allem schon sehr anregend. Im einzelnen fand ich vieles irgendwie schief programmiert, von der Abfolge wie von den Locations her. Ausser den ersten drei Sets am Sonntag war keiner der vier Hauptprogrammblöcke in sich wirklich stimmig – dass die Schluss-Sets jeweils alles raus reissen kann ja nicht der geplante Effekt gewesen sein.
Aber es war ja doch sehr viel schönes dabei – allen die Trios: Ambarchi/Berthling/Werliin, Bauer/Parker/Drake, Amba/Cajado/Takara und auch das kurze unangekündigte von Brown/Abrams/Reed. Die Veteranen haben überhaupt geliefert, ganz besonders Andrew Cyrille, aber auch Ari Brown (von dem ich gerne mehr gehört hätte), Henry Threadgill (der sich zwar etwas mehr Solo-Platz nahm als Silke Eberhard – da hätte ich von beiden gerne mehr gehört) und natürlich Conny Bauer. Und nicht zuletzt Alexander von Schlippenbach (zum Schluss gönne ich ihm nochmal ein „von“).
Und natürlich genoss ich es sehr, mit @vorgarten dort zu sein und mal wortkarg, mal wortreich über das Erlebte nachzudenken, mich auszutauschen.
--
"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #157: Benny Golson & Curtis Fuller – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba