Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

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gypsy-tail-wind
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Hab den Arbeitstag vorhin mit André Tchaikowsky beendet – und höre dieselbe CD, die dritte von vieren in seiner „Complete RCA Album Collection“, jetzt nochmal. Krasse Biographie … bis zum finalen „quirk“, dass er seinen Schädel der Royal Shakespeare Company vermachte, mit der Bitte, diesen als Bühnenrequisit zu nutzen. Und unglaubliches Klavierspiel, was hier zu hören ist: frei, voller Spannung, Klarheit, Farbenreichtum – auch da, wo es zuoberst, zuvorderst vielleicht erstmal etwas schroff wirkt.

Geboren 1935 in Warschau als Robert Andrzej Krauthammer rettete ihn seine Grossmutter mit falschen Papier (Andrzej Robert Jan Czajkowski), schmuggelte ihn aus dem Warschauer Ghetto (die Mutter wurde kurz nach der Flucht in Treblinka ermordet) und versteckte ihn über drei Jahre in mindestens zehn Unterschlüpfen bis zum Kriegsende. Dann studierte er in Lodz weiter, danach am Pariser Konservatorium und zuletzt an der Musikhochschule in Warschau. Er genoss es, zu provozieren, hatte gemäss Anastasia Belina (Liner Notes) „ein krankhaftes Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung und bestrafte all jene, die ihm seiner Meinung nach nicht genug Anerkennung entgegenbrachten“.

Zwischen 1957 und 1960 gab er fast 500 Konzerte rund um die Welt, aber während der US-Tournee 1957/58 traten bereits seine späteren Wesenszüge in den Vordergrund: massives Lampenfieber (wobei er es verachtete, zu üben), Missachtung der Etikette, keine Lust auf die ganzen sozialen Anlässe und Empfänge rund um die Konzerte – er beleidigte dann gerne gerade die Mäzene, die ihn unterstützten. Auch kam er zu spät zu Orchesterproben, versäumte auch mal Konzerte – baute also auch zu Dirigenten und Orchestern keine guten Beziehungen auf (dennoch kam es 1959 zur Einladung, eine Platte mit Fritz Reiner aufzunehmen), er weigerte sich, gewisses Repertoire zu spielen (die Konzerte von Tchaikowsky, Grieg, Rachmaninoff, Saint-Saëns, das fünfte von Beethoven).

In Perth führte er 1975 im Rahmen einer zweimonatigen Residenz sämtliche Konzerte Mozarts auf: drei pro Abend, alle auswendig – oft mit eigenen, auch improvisierten Kadenzen, denn seine grösste Leidenschaft war das Komponieren (es gibt bei Toccata eine schon vor einigen Jahren erschienene erste CD mit seinen Werken, muss ich wohl beim Vertrieb mal bestellen). Er hatte wohl ein photographisches Gedächtnis: ein Blick auf die Partitur scheint zum Einprägen gereicht zu haben. Wenn das Publikum nicht eifrig genug applaudierte oder Zuspätkommende nicht leise genug waren, machte er seinen Ärger spürbar (letzteres klingt ein wenig nach Keith Jarrett) – und einmal spielte er in Spanien, als der Applaus ihm zu verhalten vorkam, zur „Strafe“ als Zugabe die kompletten Goldberg-Variationen.

Das Studio war seins wohl nicht, hinten im Booklet gibt es eine ganze Liste mit Aufnahmen, die wohl bei der Vorbereitung der kleinen Box auch nochmal angehört und für „not fit for release“ befunden wurde: Bach Goldberg-Variationen (die er früh live aufführte), die Sonate Nr. 7 von Pokofiev, Mazurken von Szymnowski, Mozarts Sonaten KV 331-333, die meisten Préludes und zwei Mazurken von Chopin, sowie vier Scarlatti-Sonaten.

Auf Discogs finde ich danach noch vier Alben für die frz. Columbia (das heisst, die gehören zu EMI und damit zu Warner, oder?): die Goldberg-Variationen, ein weiteres Mozart-Programm, eine Platte mit Haydn-Sonaten sowie ein Schubert-Rezital, das bei Discogs als World Records Club-Album geführt wird (vermutlich, weil für keine der Columbia-Ausgaben eine Jahreszahl bekannt ist). Bedauerlich, dass das nicht alles gebündelt werden konnte! Das Rezital vom Chopin-Wettbewerb 1955 (er gewann den 8. Platz von 77 Teilnehmenden, beim Concours Reine Elisabeth 1956 wurde er dann hinter Vladimir Ashkenazy und John Browning dritter, worauf Rubinstein ihn unter seine Fittiche zu nehmen versuchte, was nicht lange gelang, aber da startete der junge Pianist dann so gut es eben gehen sollte mit seiner Persönlichkeit durch. Nach dem Solo-Debut (Gaspard de la nut, Visions fugitives) folgte das erste Album mit Orchester, das Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner, und dem C-Dur-Konzert KV 503 von Mozart. Das für die LP geplante Bach-Konzert BWV 1056 zog er in letzter Minute zurück, die Plattenhüllen wurden noch angepasst – Reiner spielte noch rasch die Don Giovanni-Ouvertüre ein – doch auf den Labeln der B-Seite stand das Konzert von Bach. Es erschien dann 1980 in Japan doch noch, und für die Box hat man die einst geplante LP rekonstruiert (ohne die Ouvertüre, bei der Tchaikowsky ja eh nicht mitspielt).

PS: auf Vol. 2 der Norma Fisher at the BBC-Aufnahmen gibt es Tchaikowskys „Inventions“ Op. 2

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