Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Über die Klasse der Klassik › Ich höre gerade … klassische Musik! › Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!
Ich hörte gestern die Casals-Box noch zu Ende – die letzten zwei CDs in vertauschter Reihenfolge. Und das ist sehr instruktiv, denn Gendron klingt sehr viel … smoother als der alte Casals, der auf diesen späten Aufnahmen sehr schrammelig drauf ist. Tully Potter ist diesbezüglich offen in den Liner Notes zur Box und meint da u.a. „He still played in tune most of the time, but tempi tended to be slower, and the overall effect was gruffer, plainer and frailer than it had been.“ Dieses „had been“ beschreibt er als: „In his best years, Casals’s tone was like a shower of gold, while on the A string it had a keen focus and a plangent, affecting quality“ und schiebt nach: „The acclaim that came to him in the 1950s and 1960s was, to a great extent, a salute to what he had been.“ Zum Einstieg sind also sicherlich die einen viel längeren Zeitraum abdeckenden EMI-Aufnahmen besser geeignet.
Doch nochmal zu den beiden letzten Philips-Alben: Gendron spielt seine eigenen Editionen von Haydn und Boccherini, was v.a. bei letzterem wichtig ist, denn die vorher gängige (auch von Casals gespielte) ersetzte kurzerhand den langsamen mittleren Satz dieses Konzertes in B-Dur (G. 482) durch den eines anderen Konzertes. Casals steht hier also 1960 am Pult des Orchestre des Concerts Lamoureux, die einzige Studio-Aufnahme in der 7-CD-Box, und hilft dem auch in Sachen politische Haltung (aka Nazi- und Kollaborationsresistenz) gleichgesinnten Maurice Gendron zu einem tollen Album. Das zweitletzte Album, zu dem im Booklet erstaunlicherweise steht, die Original-Nummer, mit der die Platte von Philips erstmals herausgebracht wurde, sei nicht eruierbar, ist das früheste in der Box, ein Konzert an der Sorbonne zu Ehren Casals, bei dem 1956 sein 57. Bühnenjubiläum in Paris gefeiert wurde. Er probt und leitet tdann mit demselben Orchester (Lamoureux) Faurés „Élégie“, wobei der Solopart von zehn Cellisten übernommen wird: Paul Bazelaire, Maurice Maréchal, Gaspard Cassado (der in Nazi-Deutschland aufgetreten war, aber 1956 hatte Casals ihm verziehen), Rudolf von Tobel, Étienne Pasquier, Gaston Marchesini, Guy Fallot, Charles Bartsch und Jean Vaugeois. Danach spielen 102 Cellisten (ob da auch Frauen dabei waren?) Casals‘ „El Pessebre“ und „Sardana“, und zum Abschluss grummelt der Meister zur Sarabande aus Bachs Suite Nr. 5 (BWV 1011) mit.
Die Politik spricht Potter auch rasch an: sie erklärt auch, warum bei den Bonner-Aufnahmen 1958 nicht wie üblich Alexander Schneider den Geigenpart in den Klaviertrios spielt. Dieser teilte Casals einst unversöhnliche Haltung (keinen Fuss auf den Boden all derer, die das Nazi-Regime – bei Casals kommt das Franco-Regime dazu bzw. spielte vielleicht die Hauptrolle? – unterstützt haben) und war 1958 weiterhin nicht bereit, nach Deutschland zu reisen. Casals vertrat die Ansicht, ein Auftritt in der Beethoven-Stadt überwinde all diese Hindernisse und sei gerechtfertigt. Deshalb übernimmt Sandor Végh hier an der Violine. Für Casals-Kenner sind das jedenfalls alles bereichernde Aufnahmen – aber sicherlich nicht das, was man zum Einstieg in sein Werk anhören sollte.
PS: was mit dem Vornahmen „Gabriel“ auf dem mittleren Cover (dem von 1956) passiert ist, weiss ich leider nicht … bei Discogs gibt es bloss ein Alternativ-Cover, soweit ich sehe.
--
"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba