Antwort auf: Greil Marcus – Mystery Train

#12066455  | PERMALINK

friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

Beiträge: 4,890

@bullschuetz

War eigentlich Bruce Springsteens Born To Run schon erschienen, als Greil Marcus Mystery Train schrieb?

Ich glaube nicht.

Der hätte schon besser gepasst mit seinen den Glück hinterher rennenden und dabei immer wieder scheiternden Figuren.

Hatte ich noch nie drüber nachgedacht, aber jetzt, wo Du es sagst, kommt es mir sehr einleuchtend vor: Bruce klang damals, als wolle er Aufnahme in „Mystery Train“ finden

Ja genau:

The highway’s jammed with broken heroes
On a last chance power drive
Everybody’s out on the run tonight
But there’s no place left to hide
Together, Wendy, we can live with the sadness
I’ll love you with all the madness in my soul
Oh, someday, girl, I don’t know when
We’re gonna get to that place
Where we really wanna go and we’ll walk in the sun
But ‚til then, tramps like us
Baby, we were born to run

Nochmal rückblickend ein paar Worte zu Greil Marcus’ Mystery Train. Eigentlich ist ja schon fast alles dazu gesagt.

Ein Blick in das Unterbewusstsein Amerikas, wo all die Hoffnungen, Glücksversprechen, geheimen Wünsche und unterdrückten Lüste, die Wut, die Ängste, Enttäuschungen, verdrängten Sünden und Abgründe wuchern, alles gewachsen und weitergegeben in hunderten von Jahren. Im R’n’R – das heißt nach dem Verständnis von Greil Marcus in Folk, Country, Blues, Rock, Soul und Funk – quillt das alles hervor und da zeigt Amerika sein wahres Gesicht – im Guten wie im Bösen. In seiner reinsten – das heißt: widersprüchlichsten! – Form findet sich das eigentlich in Elvis, dem armen Jungen aus der Südstaaten-Provinz, der es bis ganz nach oben schafft. Gleichzeitig Sexsymbol und Chorknabe, Frauenheld und Muttersöhnchen, musikalischer Ikonoklast und glatter Kommerzheini, Weltstar, der sein Heimatland nie verlassen hat, strahlender Held und tablettensüchtiges Wrack.

Klingt ein bisschen pathetisch, passt so verdichtet aber auch irgendwie zu Greil Marcus’ Buch, in dem er uralte Mythen ausgräbt, wild fabuliert und frei assoziiert, seiner überschäumenden Begeisterung freien Lauf lässt und in seiner Kritik wie ein betrogener Liebhaber übel nachtritt.

Im Gegensatz dazu steht der sehr umfangreiche Anhang, in dem GM erkennen lässt, dass er die Materie durch und durch kennt. Er hat offenbar jede Blues-Aufnahme seit den 1920ern gehört, kennt sich mit den Biografien seiner Helden aus, hat jeden Zeitungsartikel und jedes Buch zum Thema gelesen und kann das alles auch geistreich und witzig kommentieren. Doch selbst da gehen ihm manchmal die Pferde durch, wenn er seitenlang die Biografie der Sagengestalt Stagger Lee bis ins Detail zu rekonstruieren versucht. Da kann man getrost mal ein-zwei Seiten einfach überschlagen.

Nicht immer leicht zu lesen, aber ein sehr erhellendes Buch, das mich Rock in vielen seiner Ausformungen noch mal ganz anders hören lässt. Auch wenn ich denke: eigentlich ist das so eine Art passiver kultureller Aneignung, wenn ich als Mittelklasse-Europäer us-amerikanische Musik höre und davon fasziniert bin. So ganz verstehen kann ich sie eigentlich nicht.

Ein schönes Zitat aus Mystery Train – wenn auch nur indirekt von Greil Marcus – zum Schluss: „In diesem Land gibt es es eine sehr große spirituelle Lücke, und sie wird von Scharlatanen, Betrügern und dem Fernsehen gefüllt“, sagt der Sänger Don Henley 1989. „Weil die Leute so ausgehungert sind nach einem Wunder, hat man Jesus und Elvis häufiger gesichtet als den Schneemenschen oder das Ungeheuer von Loch Ness.“

zuletzt geändert von friedrich

--

„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)