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„This Is What I Do“ – matter of fact. Titel, Cover, Musik: passt alles. Sechs längere Stücke mit Clifton Anderson (er setzt zweimal aus), Stephen Scott, Bob Cranshaw, Jack DeJohnette (auf vieren, zwei davon ohne Anderson) und Perry Wilson. Keine Percussion, die Gitarre zu dem Zeitpunkt wieder raus. Anderson kriegt in „Charles M.“ (Mingus?) Platz für ein beeindruckendes Solo mit Plunger, Scott soliert im öffnenden Calypso „Salvador“ ganz hervorragend – das ist für mich eins der stimmigsten späten Rollins-Alben, wie schon beim ersten Hören (auch 2006, als nach der Concord-Übernahme von Fantasy in Europa diese Universal-Nachpressungen auftauchten) haut mich das wieder völlig um, weil Rollins in so magistraler Form ist – und einfach alles passt hier. Eine kleine Irritation gibt es wieder bei den zwei Sessions: beide aus den Clinton Recordings Studios in NYC mit demselben Personal (Troy Henderson hat aufgenommen, Sonny produziert, Lucille co-produziert) – aber wieder mit anderem Klangbild. Ich wundere mich bei all diesen gestückelten Alben ein wenig, ob das so geplant war, ob man jeweils bei den ersten Sessions (hier 8. und 9. Mai 2000, die vier Stücke DeJohnette) nicht fertig wurde oder mit manchen Takes unzufrieden war – und wenn ja, warum man die ganzen technischen Details (verwendete Mikrophone, Positionen, Mischpult-Einstellungen, was weiss ich) nicht dokumentierte, um passend fortzufahren (in diesem Fall am 29. Juli). Egal, die Musik ist wahnsinnig gut, Rollins klingt formidabel, die Grooves sind klasse, so sexy wie in „Sweet Leilani“ (ein Stück, das Bing Crosby 1973 im Film „Waikiki Wedding“ sang) klingt auch Rollins selten, aber wenn danach mit „Did You See Harold Vick?“ beim zweiten Calypso-Stück der Sound plötzlich viel trockener/flacher ist, ist das halt doch etwas irrigierend, bis man sich nach ein, zwei Minuten umgestellt hat. In der zweiten Hälfte gibt es zweimal grosses Balladen-Kino (Cinemascope, Technicolor) in „A Nightingale Sang in Berkeley Square“ (da ist Scott auch wieder toll, streut zum Einstieg ein Monk-Zitat ein) und „The Moon of Manakoora“ (beide mit DeJohnette) und dazwischen von der Session mit Perry Scott das ebenfalls schon erwähnte Rollins-Stück „Charles M.“, eine Art Blues-Ballade, mit dem umwerfenden Solo von Clifton Anderson, der hier auf Rollins, Cranshaw und Scott folgt – und für einmal zeigt, dass er durchaus das Zeug zum ebenbürtigen Partner hatte. „Moon“ ein krönender Abschluss, in dem Cranshaw/DeJohnette einen umwerfenden Groove hinlegen und der Leader darüber zu einem unverwechselbaren Höhenflug ansetzt.
Hier lang zu „Tenor Madness“ in der irren Version vom 8. Juni 2000 (zwischen den Sessions für „This Is What I Do“ also) in Tama City in Japan. 30 Chorusse Rollins sind hier zu hören („Road Shows Vol. 1“) – besser als die Version auf „G-Man“:
Hier sind Clifton Anderson, Stephen Scott, Bob Cranshaw, Perry Wilson und Victor See Yuen dabei. Bei den „Road Shows“ geht es dann mit Vol. 4 in Boston am 15. September 2001 weiter, Kimati Dinizulu hat inzwischen den Percussion-Posten geerbt, sonst ist dieselbe Band dabei. Rollins überlegte, das Konzert im Berklee Performance Center abzusagen, doch Lucille habe insistiert. Erst geht es in den Balladenhimmel mit „You’re Mine You“, danach steht am Ende der CD (der letzten autorisierten Rollins-CD? weiteren „Road Shows“-Volumen steht ja an sich nichts im Weg, aber die Reihe lief von 2008 bis 2016 und scheint damit eingeschlafen zu sein) ein ca. 23minütiges Medley aus „Sweet Leilani“ (Rollins in Zitierlaune, er spielt „Alfie“), einem fünfminütigen unbegleiteten Rollins-Solo, das zum Einstieg von der „Marseillaise“ zu „St. Thomas“ überleitet und immer wieder zu ersterer zurück findet und noch so einiges anderes in den Topf schmeisst – richtig abheben kann er hier vor lauter Zitaten nicht, und hat dies auch im langen „Don’t Stop the Carnival“, in dem er erstmal die Band ankündigt und dann im tiefen Register zu riffen beginnt, gar nicht erst vor. Neun Minuten honkt er repetitiv, reitet den Groove, dann wird über einsetzenden Applaus noch etwas getrommelt, bis der stotternde Rollins nach fast zehn Minuten einen Schlussstrich zieht. Danach gibt es noch eine Minuten Applaus – den letzten für Rollins auf dieser 2016 erschienenen CD vielleicht – aber das letzte Konzert hatte er da noch lange nicht gegeben. Das sind Outtakes von dem Konzert, das 2005 auch auf dem Album „Without a Song – The 9/11 Concert“ dokumentiert wurde ist. Dieses kenne ich bisher allerdings nicht.
Von 2001 gibt es auf den „Road Shows Vol. 3“ als Opener eine umwerfende Live-Version von „Biji“, dem Calypso von „+ 3“, wieder aus Japan (Saitama). Nach langem Applaus (seltsamer Einstieg für eine CD, 45 Sekunden) geht es mit dem Riff-Thema los und aus dem Dialog der beiden Bläser spielt Anderson sich frei – und glänzt mit seiner anderen Seite: sein fliessendes Solo mit wunderbar rundem, samtenen Ton schwebt förmlich über dem Groove. Das Glanzlicht setzt aber Rollins am Schluss.
Am 20./21. Dezember 2005 , 13. Januar sowie 9. und 10. Februar 2006 entsteht Rollins‘ letztes Studioalbum, „Sonny, Please“. Er bringt die Working Band mit Bobby Broom und neuem Drummer mit: Broom hat Scott abgelöst, Steve Jordan spielt das Schlagzeug, Anderson, Cranshaw und Dinizulu sind dabei. Auf einem Stück übernimmt Joe Corsello von Jordan – und auf zweien spielt Cranshaw zur Abwechslung wieder einmal Kontrabass. Los geht es mit dem Titelstück, einem simplen Groove mit prominenter Percussion, über den Rollins zu einem freien Flug ansetzt. Das ist hier nicht mal mehr modal, ein Orgelpunkt reicht eigentlich schon (die Gitarre spielt ein paar Akkorde, aber so weit im Hintergrund und so offen, dass sie eh nicht in die Quere kommt). Anderson übernimmt nach dem langen Solo und schlägt sich wieder ziemlich gut. Die erste grosse Ballade folgt auf dem Fuss, Noel Cowards „Someday I’ll Find You“ mit einer wunderbaren Posaunenbegleitung hinter Rollins‘ Themenpräsentation – und mit fast 10 Minuten das längste Stück des Albums. Alles in allem wirkt Rollins hier für meine Ohren gelöst und in allerbester Laune, die Atmosphäre ist eher noch lockerer als auf „This Is What I Do“ – und das ist vielleicht auch ein wenig das Problem: oft wirkt das wie ein mitgeschnittene Jam-Session, viele schöne Momente, keine richtige Geschlossenheit (wie ich sie beim Vorgänger höre). Ich kann mir gut vorstellen, dass das etwas mit der Personalie Broom statt Scott zu tun hat: ich mag zwar einerseits das offenere Klangbild sehr, aber zugleich kittet Broom nichts, er spielt spärliche, oft ziemlich langweilige Schrammelakkorde im Hintergrund – und ein paar eher harmlose Soli. Das klingt alles sehr schön, hat aber wenig Biss. Scott geht viel mehr nach vorn; Broom wirkt auf mich eher, als spiele er einfach mit. Mit „Serenade“ ist hier auch auch ein Stück Salonmusik (es stammt aus einem Ballet namens „Les Millions d’Arlequin“) zu hören (hier übernimmt Corsello an den Drums) – natürlich ein Rollins-Glanzlicht.
Übrigens finde ich auch hier – wenn ich in „Nishi“ und etwas weniger auch in „Remembering Tommy“ (Flanagan, I presume? Er starb am 16. November 2001 – schönes Posaunensolo hier) mit ihm am Kontrabass höre – Cranshaws Aussage, dass er an der Bassgitarre nicht anders spiele, nachvollziehbar: bloss geht es hier, nach all den Jahren, in die andere Richtung.
Am 15. Mai 2006 ist Rollins mit derselben Band aber einem neuen (Gast-)Drummer in Toulouse: Victor Lewis – gleich drei Stücke sind davon auf den „Road Shows“-CDs erschienen: ein Remake des Klassikers „More Than You Know“ (1955 als B-Seite der 10-LP „Sonny Rollins & Thelonious Monk“ erscheinen, später auf dem 12″-LP „Moving Out“) auf Vol. 1 bietet neben dem souveränen Leader (nicht zuletzt mit einer wunderbaren Solo-Kadenz am Schluss) ein schönes Solo von Bobby Broom; auf Vol. 3 gibt es gleich nochmal Cowards „Someday I’ll Find You“, dieses Mal eine Viertelstunde lang und ein weiteres Rollins-Balladenmeisterwerk (ich frage mich an der Stelle, ob Broom vielleicht einfach nicht der richtige Mann fürs Plattenstudio ist?); und auf Vol. 4 dann noch „H.S.“ (Anderson pausiert), ein Stück von „+3“, das Horace Silver gewidmet ist – dem Pianisten, der 1954 dabei war, als Miles Davis und Rollins dessen drei künftige Klassiker „Airegin“, „Oleo“ und „Doxy“ einspielten. Rollins ist hier in Zitierlaune (zumindest „There Will Never Be Another You“ ist mir gerade aufgefallen, ich glaube, da versteckt sich noch mehr).
Der Groove in „Island Lady“, beim ersten Auftritt von Rollins in Victoria (BC, Kanada) Ende Juni 2007, wie er in der Ansage davor sagt, ist grossartig, die Stimmung aufgeräumt fröhlich – und Clifton Anderson kriegt mal wieder etwas Raum. Steve Jordan spielt das Schlagzeug, ansonsten sind wieder dieselben Leute dabei: Broom, Cranshaw, Dinizulu. Vol. 1 von „Road Shows“ endet direkt nach „Island Lady“ mit „Some Enchanted Evening“ vom September 2007, als Rollins mit einem exquisiten Trio in der Carnegie Hall spielte: Christian McBride am Bass und der alte Gefährte Roy Haynes (mit dem Rollins z.B. 1949 die Bud Powell’s Modernists Session für Blue Note machte). Grosses Balladenkino mal wieder – und ein seltenes Beispiel für Rollins im alten favorisierten Setting und obendrein auch mit einem lebendigeren Bassisten als seit langem üblich. Zwei weitere Aufnahmen von 2007 gibt es auf Vols. 3 und 4 von „Road Shows“: zuerst ein fast 24minütiges „Why Was I Born?“ aus Marciac (Jordan am Schlagzeug, wie damals, als Rollins das Stück 1991 erstmals einspielte), in dem Rollins nach dem Gitarrensolo von Broom fast 20 Minuten zuerst als Solist und dann im Dialog mit Jordan zu hören ist. Ein Parforce-Ritt, wie es ihn selbst bei Rollins nicht oft gibt. Auf Vol. 4 gibt es zum Einstieg „In a Sentimental Mood“ aus dem Barbican in London von Ende November, das fast zur Hälfte aus einer Solo-Kadenz von Rollins besteht – zugleich meisterhaft und auch ziemlich zerklüftet. Hier spielt Jerome Jennings Schlagzeug und Kimati Dinizulu ist zum letzten Mal dabei.
Weiter geht es dann 2009 mit „Solo Sonny“, das auf „Road Shows Vol. 3“ zwischen ein Stück von 2012 und „Why Was I Born?“ programmiert wurde – eine Aufnahme aus St. Louis – auch dabei an dem Abend, aber hier nicht zu hören, waren Anderson, Broom, Cranshaw und die neuen Drum-Section: Kobie Watkins (d) und Sammy Figueroa (perc). Rollins ist in Zitierlaune irgendwo in der Mitte geht es z.B. vom „Tennessee Waltz“ direkt in „Blue Moon“ in „The Song Is You“ – und doch funktioniert das hier für meine Ohren prächtig (und sehr viel besser als beim 9/11-Konzert). Watkins/Figueroa blieben bis 2012, als Rollins seine letzten Auftritte absolvierte. „Road Shows Vol. 2“ stammt komplett von 2010, auf Vols. 3 und 4 gibt es je zwei Stücke von 2012 – dazu die Tage dann noch ein letzter Post hier.
Und wegen Sammy Figeroa, den ich neulich übersehen hatte, ein erratum: oben schrieb ich, dass es zwei Percussionisten gab in all den Jahren: Victor See Yuen und Kimati Dinizulu; es sind drei, denn eben: in den letzten Jahren war Sammy Figueroa dabei – und damit verschoben sich die Akzente ein wenig (stärker zur Trommel, konkret der Conga).
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Ein richtiges Fazit mag ich nicht ziehen – einfach ein paar eher lose, nicht lange überdachte Gedanken. Fragen nach Relevanz oder so sind mir angesichts des überragenden Werkes von Rollins relativ egal. Verlor er seine Relevanz z.B. vielleicht genau da, als er sich um 1990 herum in neue Umfeld akustischen Neo-Bop einreihen konnte und fortan auf Experimente mit E-Pianos und Synthesizern, Studio-Experimente mit Overdubs oder Disco-Beats verzichtete? So könnte eine Argumentationslinie lauten, die ich ähnlich uninteressant fände wie die Gegenbehauptung, dass Rollins durch das aufkommen der musikalischen Neo-Cons gerade wieder an Bedeutung gewann.
Im Rückblick tendierte ich fast eher zur Arbeitsthese, dass Rollins letztlich fast von Beginn an ein Solitär war. Wie wenig er sich um die Sitten und Bräuche (und Unsitten) des Musikbusiness scherte, wird ja spätestens 1959 klar, als er sich für drei Jahre zurückzog (dass er 1958 nur noch zwei Alben mache, kann man vielleicht schon als allmähliches Abbremsen vor dem Stop deuten). Klar hatte er kongeniale Partner an seiner Seite (darunter auch welche, die gerne vergessen gehen: Thad Jones, René Thomas … andere werden überschätzt: Elvin Jones war 1957 noch keine grosse Nummer), klar holte er sich hervorragende Leute (oder liess sich diese von Bob Weinstock, George Avakian usw. zur Seite stellen): Tommy Flanagan, Ray Bryant, Kenny Drew, Sonny Clark, Horace Silver, Wynton Kelly, Jim Hall, Doug Watkins, Wilbur Ware, Oscar Pettiford, Ray Brown, Henry Grimes, Max Roach, Philly Joe Jones, Shelly Manne, vereinzelt auch andere Bläser: Kenny Dorham, eben Thad Jones, Donald Byrd – viele waren das nicht, natürlich darf man Clifford Brown in der Band von Roach nicht vergessen.
Aber wer war wirklich zentral für Rollins? Ich denke da erstmal vor allem an drei Leute: Thelonious Monk, Miles Davis und Max Roach. Andere tauchten kurz an seiner Seite auf, gaben Impulse oder erwiesen sich als Partner auf Augenhöhe: Bud Powell (vermutlich schon ein Einfluss), Coleman Hawkins (unbedingt ein Einfluss, aber die Begegnung war ja erst später), Don Cherry (da hab ich manchmal das Gefühl, dass dieser von Rollins mehr Impulse kriegte als umgekehrt … aber die Live-Aufnahmen müsste ich auch wieder mal in Ruhe anhören, die korrigieren ja das verfälschende Bild der damaligen Platte schon deutlich), Oscar Pettiford (ist die „Freedom Suite“ vielleicht die perfekteste Umsetzung des Trio-Konzepts, weil hier nicht „einfach ein Gig“ wie im Vanguard oder eine lockere Session mit zugewandten Orten wie „Way Out West“ dokumentiert wurde, sondern ein supertightes, sich aufeinander verlassen könnendes Trio zusammenfand, das auch eine perfekte Balance zwischen Struktur und Freiheit, Komposition und Improvisation gefunden hat?).
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba