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So, habe Mystery Train durch – genau genommen den gut 220 Seiten starken Hauptteil. Jetzt kommen noch 170 Seiten Anmerkungen und Diskographien. Wobei „Anmerkungen und Diskographien“ ziemlich irreführend ist, denn Greil Marcus kommentiert das so ausführlich, dass das eigentlich ein fast eigenständiger Text ist.
Ich schrieb bereits, dass Mystery Train nicht immer leicht zu lesen ist. Marcus interpretiert, fabuliert, mystifiziert und neigt zu wilden Assoziationsketten, ist einerseits bestens informiert und kommt andererseits zu sehr subjektiven Urteilen. Er schreibt – in dieser Reihenfolge – über den obskuren Harmonica Frank, Robert Johnson, The Band, Sly Stone, Randy Newman und abschließend über Elvis. Nebenbei werden Hermann Melville, Mark Twain, F. Scott Fitzgerald, Raymond Chandler und viele andere gestreift. Das wirkt manchmal geistreich, manchmal geschwätzig und unfokussiert, manchmal verwirrend aber am Ende setzt sich daraus ein Mosaik zusammen.
Worum geht es in Mystery Train eigentlich? Der Untertitel von Mystery Train lautet im Original „Images Of America in Rock’n’Roll Music“. Wollte ich es sehr knapp zusammenfassen, würde ich vielleicht sagen: Greil Marcus interpretiert Rock’n’Roll als Ausdruck des tief in der amerikanischen Seele verankerten Mythos vom Amercian Dream – mit all seinen Verheißungen, seinen Möglichkeiten, seine Triumphen, seinen Illusionen und Lügen und seinen dunklen Seiten. Wobei R’n’R für ihn keinen Stilbegriff ist, sondern für eine Musikkultur steht, die sich aus traditioneller amerikanischer Musik wie Folk, Country, Gospel und Blues speist, immer wieder neue Verbindungen eingeht, sich stetig wandelt und immer wieder Grenzen überschreitet.
Beeindruckt hat mich das Kapitel über Elvis: Da verdichtet sich alles findet seinen Höhepunkt. Ein Niemand aus den Südstaaten, ein Stück white trash (was als „Weißes Gesindel“ beschrieben wird), einer, der sich fast am untersten Ende des amerikanischen Klassensystems befindet, mit dem man eigentlich nichts zu tun haben will oder darf, ungebildet und arm aber hoch talentiert und mit dem Willen zum Erfolg, verbindet etwas miteinander, das eigentlich nicht zusammengehört, nämlich weißen Country mit schwarzem Blues und einer ordentlichen Portion showmanship. Kalkulierter Tabubruch – geschickt gemanaget von den gewieften Geschäftsleuten Sam Phillips und Colonel Tom Parker.
Einerseits steckt Elvis knietief im spießig provinziellen Milieu seiner Herkunft, geprägt von home, mother, god and apple pie, religiös, prüde, öde und perspektivlos, andererseits gibt es die Verlockungen von Rausch, Sex und Ruhm. Das sind unauflösbare Widersprüche, die eine riesige Spannung verursachen. Denn diese Verlockungen sind mit einem Tabu belegt und ihnen darf nur ausnahmsweise oder von einem Künstler als Außenseiter und Idol nachgegeben werden. Für die Dauer einer Show oder auch nur einer 45er Single ergötzt sich das Publikum am Exzess und an der Obszönität. Es jubelt seinem Helden zu, der das stellvertretend auslebt und macht sich dadurch die eigene trostlose Existenz etwas leichter erträglich. Doch am Ende muss Elvis mit einer Country- oder Gospelplatte doch immer wieder in den sicheren Schoß der Herde und der Kirche zurückkehren. Oder man beobachtet mit einer Mischung von Entsetzen und Lust, wie er grandios scheitert und in die Hölle abstürzt.
Als Greil Marcus Mystery Train 1975 veröffentlichte, lebte Elvis sogar noch, hatte sich aber auch schon das eine oder andere mal verkauft und sich an den eigenen Haaren wieder aus dem Sumpf gezogen. Marcus’ andere Beispiele waren damals aber alle schon entweder einen gewaltsamen frühen Tod gestorben (Johnson), in der Obskurität verschwunden (Harmonica Frank), übel abgestürzt (Sly Stone), waren ausgebrannt (The Band) oder – in den Augen von Marcus – missverstanden (Newman), also am Ende irgendwie gescheitert. 2 Jahre später war auch Elvis tot.
Vom Lastwagenfahrer zum Millionär – der ureigene amerikanische Traum, verwirklicht durch Talent, Willen und groß inszenierte Grenzüberschreitung. Und am Ende der Absturz. Und das geht immer wieder von neuem so. Das ist Rock’n’Roll !
Das schreibe ich als weißer, europäischer obere-untere-Mittelklasse-Europäer mit Universitätsabschluss und Rentenversicherung und denke: Kann ich R’n’R aus dieser Perspektive überhaupt richtig verstehen? Kann ein Europäer überhaupt R’n’R spielen? Für Greil Marcus haben immerhin die Rolling Stones es geschafft und im Übrigen waren The Band zu 4/5 Kanadier. Aber eigentlich, ganz eigentlich wurzelt R’n’R ganz tief in der amerikanischen Seele.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)