Antwort auf: Das Kinojahr 2022 aus meiner Sicht

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motoerwolf

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SPOILER AHEAD!

Crimes of the Future (David Cronenberg, 2022, CDN/GR)

Eines vorweg: ich kenne nicht besonders viel von Cronenberg, weswegen mir gegebenenfalls (Selbst-) Referenzen und ähnliches entgangen sein mögen. Daher betrachte ich ihn völlig für sich, ohne Bezug zum restlichen Werk Cronenbergs. Dieser hatte ja ziemlich vollmundig angekündigt, dass er erwarte, dass das Publikum scharenweise die Kinos gleich zu Beginn verlassen werde ob der ungeheuren Provokation durch den Film. Wie er darauf kommt, ist mir völlig schleierhaft. Ein Regisseur seines Ranges sollte ein wenig mehr Gespür für das, besonders aber für sein Publikum haben. Zwar ist der Anfang tatsächlich eine der stärksten Sequenzen des ganzen Filmes, da man ohne jede Erklärung geworfen in eine recht groteske Situation wird, die in einem Mord an einem Kind mündet. So schockierend ein Kindsmord im echten Leben ist, so wenig ist er jedoch heute noch (in dieser Darstellung) geeignet, eine Flucht aus dem Theater zu provozieren. Danach sehen wir eine Zukunft, in der die meisten Menschen keinen Schmerz und keine Infektionen mehr kennen. Wir lernen ein Performanceduo kennen, dessen Auftritte darin bestehen, dass er sich live von ihr Organe im Körper tätowieren und dann entfernen lässt, die er sich zuvor extra hat wachsen lassen. „Operationen sind der neue Sex!“ Es gibt dann noch ein zweites Paar, Angestellte in einem Büro zur Registrierung neuer Organe. Man hat wohl Angst vor unkontrollierter Evolution. Der Performancekünstler ist zudem Undercoveragent, außerdem soll er auf Wunsch von dessen Vater live den toten Jungen von Beginn obduzieren. Das alles ist nicht besonders gut erzählt, einiges schlicht überflüssig. Besonders der Handlungsstrang um die Undercovermission sticht da negativ hervor. Der Film kommt eh nicht voran, und dieser Part hält nur auf, zumal er fast nur aus Treffen mit dem Vorgesetzten besteht, in denen viel geredet wird. Show, don’t tell, wollte ich Cronenberg da ein ums andere mal zurufen. Das gleiche gilt auch für das Worldbuilding. Ein bisschen was von der Zukunft bekommen wir erzählt, wenig gezeigt. Alles daran ist absurd. Aber ein Bild der Welt ergibt sich kaum. Das mag Absicht sein, bleibt doch auch sonst vieles im Film unklar und angedeutet. Es trägt aber nicht dazu bei, dass der Zuschauer dem Geschehen interessiert folgt.
Optisch taugt der Film nur bedingt. Die Effekte sind oft erkennbar und wirken teilweise billig. Aber selbst wenn man nicht manchem Effekt sofort seine digitale Herkunft ansähe – keiner der Effekte ist für heutige Zuschauer wirklich hart. Auch der Gorehound wird also nur bedingt zufrieden gestellt. Schauspielerisch geht COTF in Ordnung, ich denke, Cronenberg hat bekommen, was er wollte. Eine Identifikation mit den Handelnden lassen ja schon die Charaktere nicht zu, da passt das unnatürliche, teils schon theaterhafte Spiel des Casts. Der Soundtrack ist auch gut, vielleicht einer der besten Aspekte des Films.
Unter dem Strich für mich ein prätentiöses Werk, dessen Themen, allen voran die Verbindung von Schmerz und Erotik, die Fetischisierung von Bodymodifikationen und Mutationen, im Kino nicht neu sind. Wenn dann gleichzeitig diese Themen nicht besonders interessant umgesetzt werden, bleibt nicht viel. Ich bin enttäuscht. Da waren andere in letzter Zeit radikaler. Titane (Julia Ducournau, 2021) böte sich in mancher Hinsicht zum Vergleich an und gewinnt diesen in meinen Augen locker.

zuletzt geändert von motoerwolf

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And all the pigeons adore me and peck at my feet Oh the fame, the fame, the fame