Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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(Foto: Ingo Höhn, theater-basel.ch)

Theater Basel – 13.11.2022

Der Freischütz
Romantische Oper von Carl Maria von Weber
Text von Friedrich Kind

Musikalische Leitung – Titus Engel
Inszenierung – Christoph Marthaler
Bühne und Kostüme – Anna Viebrock
Lichtdesign – Roland Edrich
Chorleitung – Michael Clark
Dramaturgie – Malte Ubenauf, Roman Reeger
Regiemitarbeit – Joachim Rathke

Kaspar – Jochen Schmeckenbecher
Agathe – Nicole Chevalier
Ännchen – Heike Wittlieb (oder Rosemary Hardy?)
Ottokar – Karl-Heinz Brandt
Kuno – Andrew Murphy (oder Michael Hauenstein?)
Max – Rolf Romei
Samiel, ein Eremit – Jasin Rammal-Rykała
Kilian – Raphael Clamer
Der grosse Jäger vom Schwarzwald – Ueli Jäggi

Chor des Theater Basel
Kammerorchester Basel

Bevor ich morgen in die nächste Oper gehe – ausgeschlafen dann, weil schon um 14 Uhr, passt für alte Leute und welche mit mildem Longcovid – noch ein paar Zeilen zum „Freischütz“, den ich letzten Sonntagabend in Basel zum ersten Mal sah (und überhaupt zum ersten Mal hörte, von der Ouvertüre abgesehen). Das war ein phänomenaler Abend, eine kongeniale Verschränkung von Musik, Stück und Regie. Martheler ist mir von seiner skandalisierten Zeit in Zürich (es ging um Geld und Politik und Geld und um die Rolle des Stadttheaters in der Gesellschaft und um Geld) in bester Erinnerung – schon damals fand ich die musikalischen Qualitäten seiner Inszenierungen, seiner Ensembles, seiner Stammschauspieler*innen immer wieder beeindruckend. Wie er mit Musik umging, diese ins Geschehen einbettete, fugenlos zwischen einem Kanon von Bach und gesprochenem Text hin- und herwechseln konnte: ein immer wieder beglückendes Erlebnis.

Und daran erinnerte mich nun auch die erste in Echt erlebte Opernaufführung von ihm: die Bühne ein ganz typischer Marthaler-Raum oder eigentlich: Anna Viehbrock-Raum: zwischen Bahnhofwartesaal (wie es sie bis in die Achtziger noch gab), Vereinslokal und einfacher Kneipe, links und rechts vom Graben zwei schmale Räume, der eine mit Spinden der Jäger, der andere eine Art Pausenräumchen fürs Personal. Der Graben wurde manchmal hochgefahren bzw. nach der Ouvertüre erstmal runtergefahren. Und nachdem das Orchester eins der Chorlieder in Bierhumpen gesungen hatte, setzten sich auf der Bühne die Chormitglieder an die Tische und packten Geigen aus, die sie im dritten Akt tonlos „spielten“. Dazwischen Wiederholungen, etwas Leerlauf, eine Dosis Slapstick – nicht ganz soviel, dass soviel, dass ich „fast zuviel davon“ schreiben mag … also genau richtig getroffen wohl.

Die alberne Geschichte, das Jägerlatein, die Erfindung der „Deutschen Nationaloper“ und der ganze Kram: das alles wurde durch die Regie aufgefangen, quasi gerettet – und natürlich spielt dabei die wunderbare Musik eine nicht unerhebliche Rolle. Im Graben sass nicht das Basler Sinfonieorchester, das ich bisher („La Traviata“, „Al gran sole carico d’amore“ von Luigi Nono) gehört habe, sondern das Kammerorchester Basel, für dessen Hauptkonzertreihe im Basler Stadtcasino ich diese Saison erstmals ein Abo habe. Mit Naturhörnern und mit schlanker Streicherbesetzung auf Darmseiten war das Orchester unter der Leitung von Titus Engel wirklich in Bestform. Es knallte auch mal ordentlich aus dem Graben, die Klangfarben waren beeindruckend – und dazu kam auch noch eine fünfköpfige Bühnenblasmusik. Die Musik bietet natürlich auch für diesen Ex-Klarinettisten viel Schönes, dass Marthaler das Stück ummontierte, mit Textbausteinen aus anderen Quellen (Busch und Kafka lese ich* – es gab u.a. einen Dialog, in dem zwei Jäger über einen Albtraum philosophierten, in dem sie als Vegetarier reinkarniert werden, und dann als solche von den Tieren, die sie einst töteten, getötet und verspeist werden) ergänzte, passte sehr gut – und sei es auch nur, um aus dem an sich ungeniessbaren Plot überhaupt noch etwas Aufführbares zu erschaffen.

Ich fand’s jedenfalls von A bis Z grossartig, über die ganzen Dreieinviertelstunden (inkl. eine Pause gerechnet) keine Sekunde zu lang.


PS:
Gemäss der Rezension des Online-Merkers hier fiel die Regie bei der Premiere – nicht ganz unerwartet, da bleibt die Schweiz einfach Provinz – wohl durch … und es scheint auch keine schlechte Idee gewesen zu sein, nicht gleich zu Beginn hinzufahren, denn übertönt wurde Romei letzten Sonntag vom Orchester nicht:
https://onlinemerker.com/basel-theater-der-freischuetz-in-einer-marthaler-inszenierung-premiere/

Eine positive – dennoch im Detail gar nicht unkritische – Rezension in Französisch gibt es hier:
https://bachtrack.com/de_DE/critique-der-freischutz-marthaler-engel-romei-chevalier-schmeckenbecher-hardy-theater-basel-octobre-2022

*) Im Programmheft steht: „In der Basler Fassung des ‚Freischütz0 wird das Libretto um Zitate aus dokumentarischem Material sowie Texten von Ulrich Holbein und Franz Kafka erweitert. Darüber hinaus erklingt das Volkslied ‚Jägers Liebeslied‘ von 1826.“

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