Antwort auf: 2022 & 2023 & 2024: jazzgigs, -konzerte, -festivals

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gypsy-tail-wind
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Unerhört – Zürich, Theater Neumarkt – 18.11.2022
Anthony Braxton Quartet

Anthony Braxton – alto, soprano & sopranino sax, sound effects
Mette Rasmussen – alto sax, little instruments
Carl Testa – double bass, sound effects
Mariá Portugal – drums, little instruments

Das erste – und wohl letzte – Jazzkonzert des Jahres … Anthony Braxton wieder mal da, also muss ich hin, Ehrensache. Was mich beim aktuellen Line-Up erwarten würde, davon hatte ich keinerlei Vorstellung. Ein Foto habe ich nicht gemacht (war auch nicht erlaubt, was diverse andere nicht davon abhielt) und das eine von direkt vor dem Konzert ist leider unscharf rausgekommen. Links stand Braxton, quasi vor meiner Nase, bediente mit dem Wah-Wah-Pedal die Sound-Effekte, die über den Laptop-Computer auf dem Tisch hinter ihm eingespielt wurden; er konnte sie mehr oder weniger einfach ein- und ausschalten, ev. die Lautstärke regulieren. Ganz aus waren sie nur mittendrin für eine kurze Zeit, mehrmals ging er zum Computer und machte da irgendwas, wohl andere Sounds einblenden, aber so richtig nachvollziehbar war das nicht. Dahinter lag vor dem Bass von Testa, der wohl der Mastermind hinter der Elektronik ist, auch noch was am Boden (auf dem Foto knapp zu erkennen), wo er mit den Füssen drauf was einstellen konnte. Mariá Portugal hatte keine Elektronik mit, dafür viele verschiedene Sticks und Mallets (auch diese „Reisigbündel“, die in ihrer Version mehr wie Spaghetti aussahen, die erstaunlicherweise nicht zerbrachen) und einen Haufen anderer kleiner Gegenstände, auch drei dieser runden Kinderboxen, die das Muhen einer Kuh imitieren, wenn man sie umdreht, und passend dazu auch ein paar Kuhglocken. Vorne rechts stand Mette Rasmussen, die neben einer langen Kette mit Glocken dran (sie hängt auf dem Bild am Mikrophonständer) und ein paar kleine Dinger zum Reinblasen (eine eine art Miniatur-Okrania, sah wie eine winzige Gieskanne aus, das andere eine Art runde Mundharmonika).

Die vielen Notenpulte sind auch schon auf dem Foto zu erkennen: während des gut einstündigen Sets (es folgte noch eine kurze Zugabe) wurden eifrig Noten geblättert, Braxton gab mit Handzeichen Anweisungen, wann und wie es weiterging. Herkömmliche Noten gab es auf jeden Fall – die Saxophone spielten oft zusammen Themen, wiederkehrende Motive, manchmal unisono, manchmal in völlig dissonanter Parallelführung (kleine Sekunden?), manchmal im dialogischen Austausch … mit der elektronischen Dauerkulisse dazu, quasi dem akustischen Pendant zum Teppich, auf dem Testa spielte, wurde daraus eine unglaublich breite Klangpalette. Rasmussen dominierte das Geschehen oft (war zu laut im Mix, aber sie spielt halt einfach wahnsinnig druckvoll, das sind ja eh Aufnahmemikros und nicht welche für den Saal, die kleine Lautsprecher (im Bild nicht zu sehen, sie standen links und rechts an der Bühnenkante) waren primär dazu da, die Elektronik hörbar zu machen. Diese blubberte manchmal wie eine Unterwasserkulisse, dann grummelte und brummelte sie, fiepste zwischendurch etwas, schien auch auf das musikalische Geschehen zu reagieren (was eine Illusion sein mag, keine Ahnung). Rasmussen spielte das Saxophon öfter als Braxton mit unkonventionellen Spieltechniken (Flatterzunge, ohne Mundstück …) aber auch Braxton spielte mal eine längere Passage, in der er während des Spielens auch noch ins Instrument sang, summte.

So richtig fesselnd fand ich das nicht, es mangelte oft an Spontanität, wurde sehr schnell klar, dass es hier kaum Ausbrüche oder längere Improvisationen geben würde, stets ging es weiter, wurden Notenblätter umgeblättert (Braxton legte sie auf den flach geklappten Notenständer nebenan, Testa stapelte sie sorgfältig auf dem Boden … die 50 oder mehr Blätter jeden Abend wieder in die richtige Reihenfolge einzusortieren macht bestimmt wenig Spass). Dennoch: das war ein abwechslungsreiches Set, klanglich oft sehr attraktiv. Testa spielte seinen Bass meist mit dem Bogen, liess ihn aber auch mal jazzig walken, verfremde den Klang zusätzlich. Es entstanden dabei nie Grooves – oder wenn sie es taten, wurden sie bald wieder abgeklemmt. Das kam Portugal, so mein Eindruck, am wenigsten zu gute. Sie spielte oft phantastisch, aber ich hätte Lust gehabt, sie mal ohne dieses dauernden Stop-and-Go und ohne die kleinteiligen Anweisungen zu hören. Momente des Ausbruchs gab es einmal für Testa und mehrmals für die Saxophone, Rasmussen nutzte das aus, ging dabei ganz wie zu erwarten an die Grenzen des Aushaltbaren, spielte ihr Sax in den Momenten zwar völlig konventionell, aber mit einer Intensität, die an Leute wie Albert Ayler gemahnte. Braxton fand daran sichtlich seinen Gefallen – überhaupt war es ganz schön, dem alten Herrn dabei zuzuschauen, wie er mit den drei jungen Leuten auf der Bühne stand, auch dass das Geschlechterverhältnis ausgeglichen ist, sieht man nicht oft (beim anderen Braxton Quartett, das ich vor einigen Jahren mal live hörte, war das aber auch der Fall: Taylor Ho Bynum, Ingrid Laubrock und Mary Halvorson). Und natürlich konnte auch Braxton immer wieder glänzen, tat das zurückhaltender als Rasmussen, weniger demonstrativ, spielte manchmal auch halb im Ensemble verdeckt die irrsten Flatterzungenläufe, griff das Sopransax und legte drauf sofort los. Allein seine technische Meisterschaft ist beeindruckend, aber die allein würde natürlich noch keinen guten Musiker aus ihm machen.

Keine wirklich runde Sache also, aber am Ende eben doch in sich stimmig, von einer guten Länge, mit einer durchaus gelungenen Dramaturgie. Eine Zugabe hatte ich danach nicht erwartet, doch es gab sie – und sie Begann damit, dass Portugal direkt vor einem der herabhängenden Mikrophone lustvoll in einen knackigen Apfel biss. Und sie war nach maximal zwei Minuten auch schon wieder vorbei. Eine Fussnote, die durchaus passte – und weil Portugal nicht nach vorn guckte, wo Braxton schon lange ein Kreiszeichen mit beiden Händen bildete (steht für „Stop“, wie wir dann alle lernten), dauerte sie noch etwas länger als vorgesehen und endete dann mit einem gemeinsamen Lachen aller vier auf der Bühne. Eine schöne Auflösung nach der davor so konzentrierten Stunde.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #150: Neuheiten 2023/24 – 12.3., 22:00; #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba