Antwort auf: Die letzte Dokumentation, die ich gesehen habe

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Christoph Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien (2020, Regie: Bettina Böhler)

Wollte ich schon vor zwei Jahren im Kino anschauen, nun ist der Dokumentarfilm endlich in einer Mediathek online. Die zweistündige Doku beginnt damit, den Schlingensief als kleinen Jungen zu zeigen, auf Hobbyfilmaufnahmen, wie er infantile Kurzfilme drehte, in denen er einen einpeitschenden und trommelnden Lehrer vor einer Klasse mit Kindern spielt, unter dem Label Amateur Film Company 2000. Sein Vater arbeitete als Apotheker. „Mein Vater hat die Leute mit Miniportionen Gift geheilt. Er hat ihnen Gift gegeben und dadurch hat sich der Organismus selber wieder reguliert, es ist eine Selbstprovokation“, erklärt Filmemacher Christoph Schlingensief, der angeblich um mehrere Ecken mit Joseph Goebbels verwandt war. Genauso verhalte es sich in seiner Arbeit als Regisseur. Für ihn waren Bunuel, Fassbinder und Alfred Edel große Vorbilder. „Alfred Edel war für mich wie eine Vaterfigur, weil er sich mit meinen Filmen auseinandergesetzt hat, was meine Eltern nicht so gerne machen“, verrät Schlingensief.

Man sieht Ausschnitte aus seinen Filmen Egomania, 100 Jahre Adolf Hitler, Mutters Maske, Das deutsche Kettensägen-Massaker, Terror 2000 und Die 120 Tage von Bottrop. Dazu erinnert sich Schlingensief, wie er Udo Kier und Tilda Swinton kennenlernte, mit denen er fortan filmisch arbeitete. Helge Schneider gehört auch zu seinem Stammensemble. In diesem Zusammenhang sieht man, wie sich Udo Kier in einer Schüssel mit brauner Farbe den Hintern einschmiert und mit seinem entblößten Gesäß ein Wandbild malt. Oder wie Wim Wenders nach 20 Minuten den Saal während einer Vorführung seines Films empört verließ.

Besonders spannend sind die Aufnahmen der documenta Kassel im August 1997, als Christoph Schlingensief mit seinen Aktivisten durch mehrere Megafone „Tötet Helmut Kohl!“ skandierte … bis plötzlich eine Schar von Polizisten auftauchte, die ihn äußerst ruppig in Handschellen legte und festnahm.

Darüber hinaus enthält der Dokumentarfilm einige Szenen der ersten Ausgabe der arte-Sendung „Durch die Nacht mit“ von 2002, in der Schlingensief auf den Dirigenten Christian Thielemann traf. Während des nicht enden wollenden Monologs von Schlingensief macht der Thielemann (wie jungenhaft der damals noch aussah) einen etwas ratlosen Gesichtsausdruck. Auf einem Friedhof unterhält er sich mit einem alten Ehepaar (seine Eltern?) über die Themen Positives Denken und Glück. Bei den Bayreuther Wagner-Festspielen darf er auch auf der Bühne randalieren. Stellenweise spricht Schlingensief etwas wirr daher. Etwa habe ihm ein WDR-Mitarbeiter gesagt: „Du wirst niemals einen Menschen lieben können. Das sieht man an deinem Film ‚Mensch Mami, wir drehn nen Film‘.“ Wie ist das zu verstehen, was soll das bedeuten? War Christoph Schlingensief ein so komplizierter und mitunter schwieriger Charakter, dass man es mit dem in einer Beziehung nicht lange aushalten konnte? Schon möglich. Vielleicht. Sogar sehr wahrscheinlich. Die letzten zehn Minuten dokumentieren seine Erkrankung an Lungenkrebs, woraus er ebenfalls Kunst machte und woran Schlingensief am 21. August 2010 starb.

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Wayne's World, Wayne's World, party time, excellent!