Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gruenschnabel

Registriert seit: 19.01.2013

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Danke, aber eine Entschuldigung wegen direkten Sprechens ist von mir aus wirklich nicht nötig.
Was ich jetzt nicht einfach finde, ist die Bezugnahme auf das, was bislang über Suggestion, Überredung, Überwältigung und Verführung von und durch Musik geschrieben wurde. Wie du sagtest: Flurin war ja auch daran beteiligt. Insofern mahne ich mich zur Vorsicht. Zudem sind diese vier Begriffe keine Synonyme.
Wenn es also bei dir nun vor allem um den Aspekt der Verführung geht: Für mich ist die Sache mit dem Superlativ nicht so einfach. Zum einen kommen bei dir gleich zwei weitere Gattungen ins Spiel (Film, Tanz). Zu Recht, wie ich finde. Und ich überlege, ob Sprache und damit Literatur/Poesie nicht auch enorm verführend wirken kann – auf eine andere Art als begriffslose Musik. Sprache als Medium hat ein äußerst hohes und vielschichtiges Suggestions- und Manipulationspotenzial. Und nicht nur das: Sprache kann gedankliche Vorstellungsräume schaffen, in denen sich Lesende (oder auch Hörende) bis zur Selbstvergessenheit verlieren können. Gypsy hatte den Bereich Fantasy genannt, den ich hier als beispielhaft empfinde. Wenn ich einen Fantasyroman einer Bach-Fuge unter dem Aspekt der Verführungsgewalt gegenüberstelle, kommt mir die Notwendigkeit vor Augen, mich von Superlativen fernzuhalten, die auf eine Kunstgattung abzielen.
Ja, ich sprach von Überschneidungen, allerdings nicht von „Feldern“, sondern nur von einem Feld. Wenn ich von ‚Kunst‘ spreche, meine ich genau dieses eine Feld, innerhalb dessen einzelne Künste weitgehend unterscheidbar sind, aber – wenn man einen subsumierenden Begriff wie ‚Kunst‘ verwendet – Berührungspunkte/Verbindungen/Beziehungen miteinander haben müssen. Diese Beziehungen sind für mein Verständnis auch daran erkennbar, dass es ästhetische Kategorien gibt, die für viele, womöglich sogar alle Kunstgattungen relevant sind (aber dann ausdrücklich nicht für jedes einzelne Kunstwerk). Da wären z.B. Raum (ich schrieb zuvor ja schon von „Vorstellungsräumen“) und Zeit. Die strikte Lessing’sche Trennung von Raum- und Zeitkünsten funktioniert ja gar nicht. Ich kann ein Gemälde nur unter Einbezug der zeitlichen Dimension sinnvoll rezipieren. Zudem lässt sich von ihm womöglich mit zeitlichen Begriffen sprechen, etwa wenn man sich zum ‚Rhythmus‘ von Farben oder Formen äußert. Zurück zum Anfangsgedanken: Die ästhetische Feld-Kategorie ‚Rhythmik‘ überschneidet sich mit mehreren Künsten.
Was du mit dem Wagner-Sprech meintest, habe ich jetzt besser verstanden. Aber das überblicke ich selbst gar nicht. Bislang stehe ich nach wie vor zu den Begriffen „Wesen“ und „Wesenszug“. Ich sehe es als prinzipiell wünschenswert an, dass Menschen sich über das austauschen, was ihrer Ansicht nach „wesentlich“ ist. Das berührt natürlich die Frage nach Wahrheit und Wirklichkeit – und auch, wie wir diese Begriffe verstehen/definieren. Ich bleibe in meinen Gedanken bei Kunst: Damit wir etwas als Kunst bezeichnen können, bedarf es meiner Überzeugung nach der Rezeption und der intersubjektiven (=kulturellen) Verhandlung darüber, inwiefern wir dem „Kunsterzeugnis“ einen ästhetischen Wert zusprechen mögen. Da die Kunstgeschichte die Erfahrung belegen kann, dass es Wertzuschreibungen gibt, die sich erhalten, die zwar nicht gänzlich konsistent sind, sich in der intersubjektiven Auseinandersetzung aber immer wieder „bewähren“, bin ich an dieser Stelle recht unbefangen mit dem Wahrheitsbegriff. Es hat sich „bewahrheitet“, dass Kafkas „Prozess“ als eine düstere und weitblickende Parabel auf das Problem des durchbürokratisierten Totalitarismus des 20. Jahrhunderts gelesen werden kann. Es ist eine kulturell gebildete Wahrheit, also keine, die in dem Roman „steckte“. Ich würde eher sagen: Sie war in ihm „angelegt“. Den Begriff des „Wesens“ verstehe ich ähnlich. Er ist das (grundsätzlich immer hinterfragbare) Ergebnis von Verhandlung und Verständigung, kein fester, unveränderlicher Kern. Wenn ich über mein eigenes „Wesen“ nachdenke, dann befinde ich mich in einem Prozess der Selbstverständigung und konstruiere als dessen Ergebnis etwas, das ich als Identitätsmerkmal etabliere. Ähnlich verhält es sich meiner Ansicht nach mit dem, was ich als „suggestiven Wesenszug“ einer Kunstrichtung oder auch eines einzelnen Kunstwerks diskutieren würde. Und ja, es schließt in gewissem Sinne ein, dass ich mir zuspreche, einen Zugang dazu zu finden. Nur ist dieser Zugang immer auch ein eigens geschaffener, konstruierter Zugang, weil es unserem Menschsein, meine ich, entspricht, dass einer Wahrheit immer die Bedingung ihrer Konstruktion anhaftet. Nicht zuletzt in der Kunst.
Danke für deine abschließenden Gedanken zum Verführer Wagner und seiner geschichtlichen Dimension. Ich kann mir darüber kein fundiertes Urteil erlauben, noch nicht einmal einen spekulativen Gedanken. Das überfordert mich. Ich denke aber weiterhin, dass der Aspekt der Verführung aus rezeptionsästhetischer Sicht einerseits äußerst bedeutsam und relevant ist, andererseits aber auch zur differenzierten und genauen Betrachtung herausfordert. Um nämlich deinen Gedanken des „Kern“-Problems aufzunehmen: Auch die Verführungsgewalt ist für mich kein konsistentes Wesensmerkmal für Wagnermusik, also etwas, was in dieser Musik „steckt“ und sich mit Aufführung einer Oper quasi über die Rezipierenden ergießt. (Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, das sei deine Vorstellung davon.) Und inwiefern sie (nach meinem Verständnis) darin „angelegt“ ist, inwiefern womöglich auch den Geist und die Reflektion herausfordernde Kompositonsmerkmale anzuführen sind, bedürfte einer sachlich fundierten, nachvollziehbaren Auseinandersetzung. Ich würde, um sehr plakativ zu schließen, eine Wagner-Oper den Nazis nicht kampflos überlassen wollen. Und hoffentlich alle Regisseure, Dirigentinnen usw. werden genau das eben auch nicht tun.

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