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@gipetto Heute vor 45 Jahren erblickte das von Bowie produzierte und maßgeblich mitgestaltete The Idiot die Welt. Das Album war der Startschuss der gemeinsamen Studioarbeit der beiden und eine Art guinea pig für Bowies experimentelle „Berliner Phase“, die er mit Low einleitete. The Idiot wurde zwar nach Low veröffentlicht, aber bereits deutlich früher fertiggestellt. Das Album stellt das musikalische Bindeglied zwischen Station To Station und Bowies erstem Berliner Werk da. Eine große Platte, die einen gewaltigen Eindruck und Einfluss auf die musikalische Nachwelt ausübte.
The Idiot habe ich im Jahr 1980 bei Michelle Records in Hamburg gekauft. Da gab es eine ganze Reihe Fächer mit LPs für DM 9,90. Das Taschengeld war knapp und musste geschickt angelegt werden. Und zu diesem Preis konnte man auch mal was riskieren.
Ich erinnere mich vage, dass ich etwas von Iggy Pop im Radio gehört hatte. Ich wusste aber nicht, was es genau war, hatte keine Ahnung, wer Iggy Pop eigentlich war, und kaufte auf Verdacht The Idiot. Vielleicht ermutigte mich auch, dass auf dem Cover „Recorded by David Bowie“ stand. Dieser Name sagte mir immerhin was.
Als ich die Platte zuhause auflegte, war ich aber irritiert: Im Radio hatte ich fetzig-agressive Rockmusik gehört. The Idiot klang aber kalt, kantig und monoton. Sowas hatte ich noch nie gehört. Es dauerte eine Weile, bis ich mich an The Idiot gewöhnte. Ob wir Freunde geworden sind, kann ich eigentlich nicht sagen. Denn wirklich angenehm klingt The Idiot nicht gerade. Sister Midnight ist ein böser Traum, Nightclubbing klingt nach Arroganz und Überdruss und die ganze zweite Seite wirkt desillusioniert und depressiv: „Well the day begins / you don’t want to live.“ China Girl entsprach noch am ehesten meinen Erwartungen und ging daher etwas leichter ins Ohr.
Erst etwas später entdeckte ich New Wave mit Bands wie Joy Division oder The Cure, und frühen Synth Pop wie Suicide oder DAF. Und die rein instrumentale, schwermütige und nebelverhangene zweite Seite von Bowie’s Low. Und damit ergab The Idiot auf einmal Sinn. Denn auch da fand sich diese Kälte, diese Kantigkeit und diese Dunkelheit und entwickelte eine ganz eigene Schönheit, die auch zum Zeitgeist der späten 70er / frühen 80er passte. Kalter Krieg, wirtschaftliche Stagnation und Arbeitslosigkeit, Häuserkämpfe, Stammheim, Bedrohung durch Atomkraft, das waren Themen, die die paranoide Atmosphäre dieser Zeit prägten.
Heute assoziiere ich The Idiot mit schwarz-weiß Fotografien der Berliner Mauer im Winter, mit der morbiden Romantik, der malerischen Tristesse und gleichzeitig auch den Freiräumen, die die Insellage der Mauerstadt ermöglichte. Iggy Pop und vor allem David Bowie – der seinen Freund James Osterberg alias Iggy Pop auf The Idiot fast wie einen Schauspieler in einem von ihm selbst inszenierten Film einsetzt – waren sich dieser Situation offenbar bewusst und haben Inspiration daraus gezogen. Beide lebten ja zu dieser Zeit in Berlin. Und natürlich weiß ich heute auch, dass The Idiot sehr von der damaligen persönlichen Lebenssituation von Iggy und Bowie geprägt ist. Das lässt die Platte noch interessanter und authentischer wirken.
Bis heute ist The Idiot für mich keine angenehme und keine leicht anzuhörende Platte. The Idiot ist schwierig! Aber das Album ist beindruckend, es spiegelt den Zeitgeist seiner Entstehung, stilisiert diese Situation in kalter dunkler Schönheit und hat wohl vieles andere ausgelöst.
Ich glaube heute übrigens, dass ich im Radio etwas von Lust For Life oder Kill City gehört hatte. Auch toll, aber ganz anders.
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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)