Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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jackofh

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@chocolate-milk: Deine Eindrücke von „Avec amour et acharnement“ würden mich interessieren. Tatsächlich ist das ein Film, den ich noch immer nicht so recht zu fassen bekommen habe. Ich gucke i.d.R. ja relativ wenige Wettbewerbs-Filme, doch Claire Denis musste natürlich sein! „A E I O U“ werde ich mir auf jeden Fall noch im Kino ansehen – und auch über „Les passagers de la nuit“ habe ich viel Gutes gehört und gelesen (der ist zumindest auf dem Zettel).

Hier noch zwei weitere Kurzbesprechungen empfehlenswerter Filme sowie eine kurze Nachlese zur diesjährigen Berlinale:

****1/2 Keiko, me wo sumasete (Shô Miyake, Encounters)
Dieses sensible Porträt einer tauben Boxerin und eines alternden Boxclubbesitzers ist ganz großes Gefühls- und Erzählkino. Wie im asiatischen Kino gewohnt, entfalten hier die kleinen Gesten größte Wirkungen. Regisseur Shô Miyake hat nach dem eher tastenden „And Your Bird Can Sing“, der 2018 im Forum lief, seine Sprache weiter verfeinert. Für die Beeinträchtigungen und Nöte seiner Figuren findet er immer wieder überzeugende filmische Mittel, ohne deren Kunstfertigkeit allzu avanciert auszustellen. Vielleicht kein besonders forderndes, aber ein äußerst fesselndes Kinoerlebnis. Und auf jeden Fall der zärtlichste, leiseste Boxfilm, den ich je gesehen habe. Mit einer überragenden Hauptdarstellerin und wunderschönen Aufnahmen von Tokio. Diese „Keiko“ hätte sich gut im Wettbewerb gemacht!

**** The United States of America (James Benning, Forum)
In jeweils einer einzigen statischen, etwa zweiminütigen Einstellung bringt einem James Benning hier die Bundesstaaten der USA in alphabetischer Reihenfolge näher – von A wie Alabama bis W wie Wyoming. Eine Schule des Sehens also. Viele der konkreten Orte sagen einem nichts, manches wirkt dagegen bekannt. Die einzelnen Motive sind divers: Landschaften (Berge, Seen, Steppe), Militär- und Industriegelände, Nebel und Wolken, Verkehrs-Infrastruktur (Häfen, Brücken, Schienen), Zäune, Strom- und Telefonkabel … Man kann diese meditative, meisterhaft komponierte Bildfolge einfach nur genießen. Oder interpretieren. Denn bald glaubt man Verbindungslinien und Anspielungen – so auf Mythos und Ikonografie des Westerns oder die Geschichte der USA – zwischen ihnen zu erkennen. Etwa, wenn in der Prärie hier heute plötzlich Windräder stehen – und in der folgenden Einstellung regungslose Pferde auf einer eingezäunten Weide. Zudem sind manche Bilder mit entsprechenden O-Tönen oder Musikstücken (wie Woody Guthries „This Land Is Your Land“) unterlegt. Kein Film für einen Plot Twist möchte man meinen. Doch kann man den eigenen Betrachtungen, kann man diesen Bildern wirklich trauen?

Insgesamt war das für mich wieder eine gute, fast „normale“ Berlinale. Ich habe 40 Filme gesehen – darunter viele exzellente und nur zwei Totalausfälle (beide in der Generation-Sektion, die einen schlechten Jahrgang hatte; mal sehen, ob das Programm unter neuer Leitung 2023 dann wieder besser wird). Das Festival wurde im Vorfeld ja scharf dafür kritisiert, dass es mitten in der Omikron-Welle in Präsenz stattfand. Dass Kinosäle nicht zu den Infektionstreibern gehören, war jedoch schon vorher bekannt. Das strenge Hygiene- und Sicherheitskonzept der Berlinale war hier absolut vorbildlich und wurde penibel umgesetzt (und vom Publikum sehr gut angenommen). Persönlich fand ich es sogar begrüßenswert, dass vor, hinter und neben mir immer mindestens ein Platz frei war. Einen Verlust des (Gemeinschafts-)Kinoerlebnisses konnte ich in den meist gutbesuchten Vorstellungen jedenfalls nicht ausmachen, wohl aber weniger unangenehme Sitznachbar*innen. Bei den Kontrollen gab es auch keinerlei Massenaufläufe – und wer argumentierte, dass die Anreise in Bussen und Bahnen das große Problem sei, sollte sich mal in den Berliner Berufsverkehr begeben … Während der Berlinale sind sowieso keine langen Fahrten mit den Öffis nötig, weil alles sehr nah beieinanderliegt (ich bin viel zu Fuß gelaufen dieses Jahr, das geht sehr gut – Fahrradfahren war wegen des Wetters dagegen ziemlich schwierig). Außerdem hat die zwischen Hauptbahnhof und Alexanderplatz stets nahezu verwaiste Kanzler*innen-Bahn U5 für mich nun doch noch einen Sinn bekommen. Außerhalb der eigenen vier Wände habe ich mich jedenfalls in keinem geschlossenen Raum so sicher gefühlt wie in den Berlinale-Kinos.

Da ich stinknormaler Kinogänger bin, war es für mich (anders als für die Presse und die Filmfachleute) auch kein auf fünf Tage verkürztes Festival (die Hauptpreise wurden ja bereits am Mittwoch vergeben). Beklagt wurde wie jedes Jahr der (pandemiebedingt diesmal fast vollständig) fehlende Glamour durch Filmstars auf dem roten Teppich. Das Bling-Bling mag fürs Prestige wichtig sein, um in der Außenwahrnehmung mit den A-Festivals Cannes und Venedig zu konkurrieren. Ich finde es jedoch eher nebensächlich. Das große Hollywood-Kino ist doch schon lange nicht mehr in Berlin präsent. Und es gibt einige Gründe dafür, warum eine Rückkehr schwierig ist. Das liegt nicht allein an der Festivalleitung.

Den Gewinner des Goldenen Bären, „Alcarràs“, habe ich diesmal sogar gesehen – ein durchaus schöner, wenn auch nicht durchgehend überzeugender Film. Was ansonsten von der Preisvergabe zu halten ist, kann ich aus o.g. Gründen schwer beurteilen. Ein Preis für Hong Sangsoo ist natürlich immer verdient. Aber ein bisschen auch ein Fingerzeig dafür, wie wenig innovatives Kino der Wettbewerb offenbar zu bieten hatte. Andere ausgezeichnete Filme, wie Dresens Kurnaz-Komödie, interessieren mich einfach so gar nicht. Die spannenderen Sichtungen gab es, wie schon in den Vorjahren, im „kleinen Wettbewerb“ der Sektion Encounters. Damit hat Carlo Chatrian auf jeden Fall ein blendend kuratiertes Programm geschaffen, das echte Entdeckungen birgt. Ob durch die Encounters-Reihe tatsächlich Wettbewerb und/oder Forum geschwächt werden, bezweifle ich. Natürlich sind die Abgrenzungen bisweilen unscharf oder manche Einordnung unverständlich (das Boxdrama „Keiko …“ hätte sich wie oben erwähnt gut in dem eher aufs Erzählkino ausgerichteten Wettbewerb gemacht). Doch der Wettbewerb schwächelte bereits vorher seit vielen Jahren. Und das unter der Leitung von Cristina Nord zusammengestellte Forum hat auch so wieder sehr starke Filme gezeigt (und mit den Archivreihen äußerst anregende Ergänzungen zu aktuellen Produktionen zu bieten).

Insgesamt finde ich den Weg, den Chatrian und Rissenbeek eingeschlagen haben, einen spannenden und guten. Mag sein, dass man sich durch die Konzentration aufs Arthouse-Kino weiter von Cannes und Venedig entfernt. Der Wettbewerb ist sicherlich deutlich schwächer. Doch wann gab es zuletzt überhaupt mal einen Berlinale-Sieger, der in den Filmkanon eingegangen ist? Das Rennen ist doch längst verloren. Warum also nicht etwas kleinere Brötchen backen und dafür die Perlen unter den mittleren und unabhängigen Produktionen ausstellen? Die Reduktion des Berlinale-Programms auf nunmehr „nur“ noch knapp 250 Filme finde ich daher ebenfalls schlüssig, das kann gerne beibehalten werden. Unter Kosslick war das Festival doch allzu sehr ausgefranst – mit viel zu vielen mediokren und schlechten Filmen im Angebot. Es ist jetzt außerdem viel besser möglich, sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen. Eine Handschrift ist zunehmend zu erkennen. Gerne weiter so!

Mein Gesamtranking:

1. A Little Love Package (Gastón Solnicki, Encounters) *****
2. Akyn (Darezhan Omirbayev, Forum) *****
3. Unrueh (Cyril Schäublin, Encounters) ****1/2
4. Die leere Mitte (Hito Steyerl, Forum Special Fiktionsbescheinigung) ****1/2
5. Keiko, me wo sumasete (Shô Miyake, Encounters) ****1/2
6. Beirut al lika (Borhane Alaouié, Forum Special) ****1/2
7. Sonne (Kurdwin Ayub, Encounters) ****1/2
8. So-seol-ga-ui yeong-hwa (Hong Sangsoo, Wettbewerb) ****1/2
9. Coma (Bertrand Bonello, Encounters) ****
10. Occhiali neri (Dario Argento, Special) ****

11. La edad media (Alejo Moguillansky & Luciana Acuña, Forum) ****
12. Un été comme ça (Denis Côté, Wettbewerb) ****
13. Zum Tod meiner Mutter (Jessica Krummacher, Encounters) ****
14. The United States of America (James Benning, Forum) ****
15. El norte sobre el vacío (Alejandra Márquez Abella, Panorama) ****
16. L’ état et moi (Max Linz, Forum) ****
17. Tytöt tytöt tytöt (Alli Haapasalo, Generation) ****
18. Dreaming Walls (Amélie van Elmbt & Maya Duverdier, Panorama) ****
19. Rewind & Play (Alain Gomis, Forum) ****
20. Mutzenbacher (Ruth Beckermann, Encounters) ***1/2

21. Aşk, Mark ve Ölüm (Cem Kaya, Panorama) ***1/2
22. Avec amour et acharnement (Claire Denis, Wettbewerb) ***1/2
23. Alcarràs (Carla Simón, Wettbewerb) ***1/2
24. Dilim dönmüyor – Meine Zunge dreht sich nicht (Serpil Turhan, Forum Special Fiktionsbescheinigung) ***1/2
25. Bettina (Lutz Pehnert, Panorama) ***1/2
26. Une fleur à la bouche (Éric Baudelaire, Forum) ***1/2
27. Kind Hearts (Gerard-Jan Claes & Olivia Rochette, Generation) ***1/2
28. Viens je t’emmène (Alain Guiraudie, Panorama) ***1/2
29. An Cailín Ciúin (Colm Bairéad, Generation) ***
30. Incroyable mais vrai (Quentin Dupieux, Special) ***

31. Merry Christmas Deutschland oder Vorlesung zur Geschichtstheorie II (Raoul Peck, Forum Special Fiktionsbescheinigung) ***
32. Comedy Queen (Sanna Lenken, Generation) ***
33. No U-Turn (Ike Nnaebue, Panorama) ***
34. Sublime (Mariano Biasin, Generation) ***
35. Rimini (Ulrich Seidl, Wettbewerb) ***
36. Najeneun deopgo bameneun chupgo (Park Song-yeol, Forum) **1/2
37. Shabu (Shamira Raphaëla, Generation) **1/2
38. Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien (Constantin Wulff, Forum) **
39. Stay Awake (Jamie Sisley, Generation) *1/2
40. Strana Sascha (Julia Trofimova, Generation) *

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