Antwort auf: Funde aus dem Archiv (alte Aufnahmen, erstmals/neu veröffentlicht)

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Stan Getz Quartet / Astrud Gilberto – Live at the Berlin Jazz Festival 1966: The Lost Recordings
(2 CD, The Lost Recordings, 2021)

Doch schon erhalten heute! Ich weiss nicht, ob Dodax von überall her verschickt, jedenfalls dauert es hier am Ende immer bloss 1-2 Tage, aber bis zum Versand manchmal etwas länger (ob die das intern zuerst verschieben?) … die ganze erste CD gehört dem Getz Quartett, und das finde ich ja gerade so toll wie neues von Astrud Gilberto mit Getz und dem Quartett hören zu können, denn diese tolle Band ist trotz allem nicht allzu gut dokumentiert – vom 1966er Line-Up mit Chuck Israels und Roy Haynes gibt es nur das Album aus Paris (ohne Astrud Gilbert), das irgendwie nur so halb gut ist; vom Vorgänger Line-Up mit Gene Cherico/Joe Hunt gibt es etwas mehr, aber auch mehr als die Hälfte davon erst später veröffentlicht (Getz A Go-Go, Getz/Gilberto #2 – mit instrumentalen Bonustracks auf der CD aus den frühen 90ern, die danach wieder wegfielen – und „Nobody Else But Me“ aus der leider viel zu schnell verschwundenen Verve Discoveries-Reihe. Letzteres war die Session, die sofort aufnehmen wollte, nachdem er den kaum zwanzigjährigen Gary Burton entdeckt hatte – doch Verve wollte noch eine Weile die Bossa-Craze ausnutzen und das Album erschien dann leider erst 30 Jahre später (mit interessante Kommentaren von Burton im Booklet, der zunächst dachte, er sei an einen alten Langweiler geraten, aber dann schnell merkte, dass Getz seine Ohren stets weit offen hielt und er von dem Alten halt doch noch was lernen konnte).

Diese neue Doppel-CD mit einem vollständigen, langen Festivalset, ist also eine substantielle Ergänzung. Auf CD 1 gibt es erstmal eine Dreiviertelstunde instrumentale Musik. Nach dem Opener von Bronislav Kaper (wo gehört der eigentlich in der Standards/Songbook-Diskussion hin?) sagt Getz die Band an, mit einem charmanten Einstieg, der mehr nach Schwedisch als Deutsch klingt, bevor er dann ins Englische wechselt (er war ja a nice bunch of guys, und nice sein konnte er wohl unter anderem schon auch). Dann spielt die Band Burtons „The Singing Song“, bevor es mit Johnny Mandel weitergeht („The Shadow of Your Smile“ natürlich), und dann mit „O Grande Amor“ das erste Bossa-Sütck zu hören ist. Das instrumentale Set geht dann aber mit Lou Donaldson („Blues Walk“), Michel Legrand („Once Upon a Summertime“) und Richard Rodgers („Edelweiss“, davor spricht Getz wieder kurz, denn das Stück ist ein Burton-Feature, dieses mal ganz allein – und das ist ziemlich toll) weiter, bevor es mit seinem Jobim-Medley schliesst: „Desafinado/Chega de Saudade“. Damit ist der Teppich für den Gast des Abends auch schon aufs schönste ausgerollt.

Auftritt Astrud Gilbert, es gibt alle sieben Songs, die sie mit Getz aufgenommen hatte – mit dem sie seit zwei Jahren nicht mehr gearbeitet hatte – zwei Jahre, in denen sie selbst zum Star geworden ist: Jobims „Samba de uma nota só“ zum Einstieg, dann wieder „The Shadow of Your Smile“, gefolgt von „Você e eu“ (Carlos Lyra/Vinícius de Moraes), „Corcovado“, „The Telephone Song“ (Roberto Menescal/Astrud Gilberto), „It Might as Well Be Spring“ (Rodgers-Hammerstein) und zum Ausklang natürlich „The Girl from Ipanema“ (Jobim/de Moraes). Danach gibt es noch einen letzten instrumentalen Track, ein fast 10minütiges „Jive Hoot“ (Bob Brookmeyer), in dem dann auch Roy Haynes mal die Gelegenheit für ein ausgewachsenes Solo kriegt.

Das ist zumindest was den instrumentalen Teil anbelangt auch vom Material her reicht interessant, finde ich … klanglich ist die Aufnahme super, von Haynes ist jedes Detail zu hören, der Bass ist sehr präsent … kann man sich für eine Live-Aufnahmen kaum besser wünschen – im Saal wird das jedenfalls niemals die Präsenz gehabt haben, wie wenn man das zuhause richtig aufdreht. Das ganze ist nur wenig zu lang für eine einzelne CD (es gab in der Reihe ja bereits eine Doppel-CD mit deutlich unter 80 Minuten Spielzeit, so ist das hier aber nicht, es gibt insgesamt 82 Minuten Musik, inklusive Ansagen und etwas Applaus)

Im Booklet schreibt Stéphane Ollivier (frz/eng) über 10 Seiten, zuerst Kurzbiographien von Getz und Gilberto und im längsten dritten Kapitel dann über das Konzert in Berlin, nicht ohne davor die ganze Bossa-Phase in Getz‘ Werk zu umreissen, die in „Getz/Gilberto“ kulminiert habe, und er streicht die beiden Songs mit der Sängerin darauf heraus: „But it was the inclusion of two other tracks, Corcovado and, even more, Girl from Ipanema, with Astrud Gilberto’s fragile, mischievous voice where innocence and nostalgia mingled irresistibly, that conquered hearts and sent the album to the top of sales charts worldwide, to the very firmament of crossover hits, and inscribed it indelibly in the book of legends of jazz.“

Zum Zeitpunkt des Mitschnittes aus Berlin (das ebenfalls live aufgenommene Album aus Paris entstand eine gute Woche später, erschien damals gemäss Discogs aber wohl nur in Frankreich und Deutschland) war die Getz/Burton-Partnerschaft schon fast am Ende, und mit Gilberto hatte Getz auch schon länger nicht mehr gearbeitet gehabt, sie sei als „special guest“ in der zweiten Konzerthälfte aufgetreten, so Ollivier (in Paris ist war sie wohl nicht dabei, zumindest ist sie nicht auf dem veröffentlichten Auszug des Konzertes).

Fazit: Eine von Getz’s besten Gruppen in einem exzellenten Live-Dokument, dazu ein wunderbares (Wieder-)Treffen mit Astrud Gilberto – das alles in einem perfekt strukturierten Set (ein Aspekt, den man in Getz ja überaus umfangreichen Diskographie nicht wirklich würdigen kann, oder? Solche Live-Mitschnitte bzw. vollständige Konzerte, die in ihren ganzen Dramaturgie zu hören sind, gibt es kauf, soweit ich weiss). Sehr lohnenswert auf jeden Fall.

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