Antwort auf: The Sound of Japan

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peterjoshua

Registriert seit: 16.07.2002

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Hier ein weiterer Bericht zu einem Plattenladen in Tokio, den ich auf meiner Facebook-Seite gepostet habe:

„Haben Sie die Platte auch in XL?“. Das hätte ich den smarten Verkäufer bei Ginza Records in, aufgemerkt: Yurakuchō (und eben nicht Ginza, das wäre zu einfach) beinahe gefragt. Denn Ginza Records liegt im siebten Stock des Herrenkaufhauses Hankyū. Und zu Hankyū ist Folgendes zu sagen:

So manch deutscher Mann pflegt ja ein eher pragmatisches Verhältnis zu seinem Äußeren. Über Jahrzehnte hinweg wird die gleiche, mitunter gar selbe Jeans getragen. Die Allwettertauglichkeit einer Jacke fällt mehr ins Gewicht als ihr Schnitt (und darf gerne durch eine Bärentatze versinnbildlicht sein). Dreiviertelhosen stellen den idealtypischen Kompromiss zwischen warm und kühl, Sommer und Herbst, ästhetischer Gleichgültigkeit und Desinteresse am eigenen Erscheinungsbild dar. Und der Satz „Ich brauche nichts!“ kommt beim Shoppen mit der Gattin ähnlich häufig zur Anwendung wie „Hast du so einen Pullover nicht schon, halt nur in Blau?“ oder „Ich warte da hinten in dem Sessel auf dich“.

Dem japanischen Mann ist sein Erscheinungsbild derart wichtig, dass man ihm ganze Bekleidungskaufhäuser eingerichtet hat, während in Deutschland die Herrenabteilung ja gerne auf einem oberen Stockwerk verborgen ist. Bei Hankyū gibt es auf acht Etagen von der superteuren Designermarke bis zur teuren Designermarke alles, was dem modernen Mann Chique und Anmut (vulgo: C&A) verleiht. Auch ich habe mich ein ums andere Mal vom Basement bis in die siebte Etage hochgearbeitet, wobei das Preisgefälle umgekehrt verläuft: Unten unbezahlbar in absurden Ausmaßen, oben nur noch unbezahlbar.

Nun schont Hankyū den Geldbeutel des Gaijin-Mannes auf eher indirekte Art und Weise: Es gibt in meiner Größe schlicht nichts. Mittlerweile frage ich oft aus Daffke, ob man ein – typischerweise runtergesetztes und also budgetgerechteres – Kleidungsstück auch in einer größeren Größe habe. So sicher wie kollektive Hustenanfälle in der Elbphilharmonie ist dabei die Reaktion des Verkaufspersonals: Es wird aufwändig im Computer nachgeschaut, um dann mit ernsthaftem Bedauern mitzuteilen, dass man das Stück nur in L habe (was mit gutem Willen und sehr eingezogenem Bauch unserem M entspricht). Ehe ich nun meinerseits Bedauern äußern kann, ist der Herr oder die Dame bereits in einem Kabuff verschwunden, um das Exemplar in L zu holen und mich sodann in eben jenes hinein zu komplementieren. Ich fühle mich wie eine Marionette der Augsburger Puppenkiste, die ihre Extremitäten nur ruckartig und vollständig ausgestreckt bewegen kann, und wünsche mich in einen dieser übergroßen Kastenanzüge, in denen Horst Seehofer so einzigartig versinkt.

Derart ernüchtert erreiche ich dann irgendwann Ginza Records, wo ich mich für die Schmach, zu groß, zu unförmig, zu klobig, zu ausländisch zu sein, mit dem ein oder anderen Impulskauf entschädige. Und da rutscht mir nach all der ermüdenden Fragerei in den unteren Stockwerken eben mitunter beinahe ein „大きなサイズもありますか。“ raus, von dem ich hoffe, dass es heißt: „Haben Sie auch große Größen?“

Tatsächlich hat Ginza Records so einiges in XL, nämlich Preise. Es wird hier ausschließlich Gebrauchtware verkauft, übersichtlich sortiert, verständig ausgewählt und ansprechend dargeboten. Und eben zu Preisen, die einem die Schuhe ausziehen – die es übrigens in Japan in der Regel und mit Ausnahme von Turnschuhen selbst im Online-Handel nur bis zur japanischen Größe 27 gibt, die irgendwo zwischen unseren Größen 42 und 43 liegt. Ob nun die Ware wirklich derart rar oder hochwertig oder gut erhalten ist, dass ein Preisaufschlag von mitunter einigen hundert Prozent gegenüber dem Angebot in anderen hiesigen Läden gerechtfertigt ist, kann ich nicht beurteilen. Dazu müsste ich bei jedem Exemplar mühsam Discogs bemühen, und dafür bin ich zu faul und zu analog und wahrscheinlich auch zu klobig. (Bei Michelle Records in Hamburg wird die Gebrauchtware natürlich sorgfältig taxiert und zu überaus fairen Preisen angeboten, aber das wisst Ihr ja.)

Ich nehme an, dass der nette Betreiber von Ginza Records, mit dem man sich wunderbar in manierlichem Englisch unterhalten kann und dem ich schon ein ums andere Mal erzählen durfte, seit wann ich in Tokio lebe und wie lange ich zu bleiben gedenke, ähnlich grundanständig ist wie alle anderen Einheimischen – wenn man mal von den Yakuza absieht, die hier allerdings nicht wirklich sichtbar sind und komischerweise gar nicht Yakuza, sondern sinnigerweise Bōryokudan, also etwa: Gewaltvereinigung genannt werden. Deshalb kaufe ich Mr Ginza Records immer etwas ab, zumal er mein Herz schon in meinen ersten Wochen in Tokio im Sturm eroberte, als er mir ausgezeichnete City-Pop-Platten ans Herz legte, die mein neues Heim sodann wochenlang aufs Erquicklichste beschallten.

Zur Belohnung für meine Kauflust werde ich im Laden allein gelassen, weil Kartenzahlungen irgendwo in den Tiefen des Hankyū-Kaufhauses vorbereitet werden müssen. Dass in Abwesenheit des Personals Ware entwendet wird, ist nicht vorstellbar. Hier reserviert man sich einen Tisch im Starbucks bekanntlich durch Deponierung von Smartphone oder Portemonnaie, ehe man an der Kasse bestellt; Fahrräder werden quasi nie geklaut, sondern allenfalls von übereifrigen Polizisten aus illegalen Parkpositionen entfernt, von denen es freilich sehr viele gibt; selbst Bargeld wird im Fundbüro abgegeben.

Die Lauschware darf ich dann in einer hochwertigen Papiertüte davontragen, die derart solide kartoniert ist, dass der Griff schmerzhaft in die Finger schneidet. Aber man sieht damit natürlich sehr elegant aus. Und ich ziehe blutige Finger in jedem Fall Kleidung vor, die nach einer amerikanischen Präsidentenresidenz benannt und, wie ich vermute, dazu angetan ist, durch ihre erratische Beflockung zur Erblindung des Betrachters und der Betrachterin schon sowieso zu führen. Das Zeug gibt es hier Gott sei Dank nicht, nicht mal in kleinen Größen.

zuletzt geändert von peterjoshua

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