Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

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gypsy-tail-windVorhin eine schöne Glosse zu Glenn Gould und Chopin gelesen … Gould hat ja die dritte Sonate eingespielt fürs Radio und sie war kurz bei Sony greifbar, in einer Doppel-CD der alten Gould Edition aus den 90ern, die auch die Radio-Aufnahmen berücksichtigte (im Gegensatz zu den jüngeren Editionen und der grossen Box) … kenne die Einspielung noch nicht, aber ich hab sie bestellen müssen (kennst Du sie @clasjaz, bzw. kennst Du diese Doppel-CD?

Ja, die habe ich. Und habe den Kauf nie bereut. Das ist gewiss kein Chopinspiel, das auch nur in die Uferregionen französischen Spiels kommen will; damit meine ich weniger Nationalität als die famose Breite von Rubinstein über Francois bis Lipatti. Aber ich liebe diese Einspielung, das ist wirklich eine Interpretation als Auslegung, so wie man Teppiche auslegt oder etwas ins Schaufenster stellt. Ich höre das immer noch auf der Stuhlkante sitzend. Agogische Freiheiten noch und nöcher, dabei klarster Anschlag (auch wenn das Pedal, spärlich genutzt, manchmal fast auf den Boden kommt), nichts, aber auch gar nichts verwischt. – Ein ähnliches Bild dann bei den wenigen Mendelssohn-Stücken – Mendelssohn einer von Goulds sog. Lieblingskomponisten. Ganz im Unterschied zu Chopin.

Dazu vielleicht noch Getippsel, ich hoffe, das ist justiziabel nicht relevant, aus dem Booklet-Text von Stegemann: „Zur Entspannung (und nur für mich) kann es ein-, zweimal im Jahr vorkommen, daß ich etwas von Chopin spiele“, gestand Gould im November 1959 in einem Interview mit dem kanadischen Journalisten Vincent Tovell. „Aber weder überzeugt er mich, noch gefällt er mir. […] Ich finde, Chopin – es scheint idiotisch zu sein, was ich jetzt sage, und ich möchte keinesfalls den Eindruck erwecken, überheblich zu sein – also, ich finde, Chopin war unzweifelhaft ein Wunder an Begabung, aber eben kein großer Komponist. Wenn er sich an den großen Formen versucht, die ein hohes Maß an Organsiation verlangen, erleidet er fast immer Schiffbruch. Als Miniaturist dagegen ist er großartig; keiner versteht es wie er, eine Atmosphäre zu schaffen; sein Verständnis fürs Klavier war sicher ohne Vorläufer, und womöglich hat keiner nach ihm so instrumentengerecht geschrieben wie er. Doch trotz alledem bereitet er mir Unwohlsein.“ – Dazu könnte man manches sagen, aber nur, wenn man tiefer interpretiert, denn oberflächlich ist das gewiss. Aber eben nur an der Oberfläche. Einer der Wünsche im Leben, die niemals erfüllt wurden, werden: Gould spielt die Préludes von Chopin. Das wäre ein Audiobeweis!

Und ich dachte längst, die Gould-Klischees seien allmählich zu den Akten gelegt. Goertz bedient sie leider; ich fand seinen Text nicht sehr schön. Vor allem nicht sehr informiert, er hätte ja zumindest mal, wenn er nicht die Gouldliteratur zur Hand hat, in das Booklet der Sony-Ausgabe hineingucken können und dann nicht am Ende schwadronieren müssen, Chopin sei Goulds Liebe oder sowas gewesen. Aber das ist bei Goertz nicht das erste Mal; er hat damals auch ziemlich unreflektiert die Bazzana-Bücher abgefeiert. Die Videobeweisgeschichte hört sich für mich so an, als ob sie da gelangweilt im Redaktionssaal saßen und einer, als die Ideen schon versiegten, hob seinen Einfall ans Tageslicht: Hey, kann der Goertz nicht mal was zu Musik, youtube und Fußball machen? Egal.

Es gibt in Goulds Chopin-Sonate immerhin sog. Stellen, die ans lyrische Synapsenspektakel greifen, und zwar in aller Ruhe. Ich höre ja auch die Appassionata von Gould immer wieder gern, und wenn ich an die Appassionata denke, denke ich als erstes an die betörende Langsamkeit; halte ich also immer noch für die beste Kernschälung des Werks.

Stegemann berichtet neben manchem anderen auch von irgendeinem Spiel zu den besten Neuerscheinungen über Gould 1966: Da kommt weit vorne, wenn auch nicht ganz vorne, zu stehen: Robert Casadesus mit op. 58. Und das wundert gar nicht! Stegemann zitiert Gould: „Auch wenn ich ganz prima ohne die Sonaten von Frédéric Francois leben kann, war ich immer der Meinung, man sollte sie – wenn man sie schon spielen muß – unbedingt so spielen, wie sich’s gehört. Und das ist die getreueste und beste Interpretation der h-moll-Sonate, die ich je gehört habe.“ – Wieder nur Oberfläche; Hauptsache, Gould hat auch in der Tiefe die Teppiche ausgelegt. Die h-moll-Sonate gehört dazu.

Und: Sony wollte die Radioproduktionen komplett bringen, dann funkte m. W. der Glenn Gould Estate dazwischen und hat übernommen. Da gibt es ein paar Einzelveröffentlichungen, auch von den Goldbergs 1954, die vollständig konträr zu der berühmten 1955er-Einspielung ist.

:bye:

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