Antwort auf: The Sound of Japan

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peterjoshua

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Mein nächster Bericht über Tokios Plartenländen für „meinen“ Plattenladen Michelle Records (in Hamburg):

https://www.facebook.com/522989394/posts/10159265734334395/?d=n

Für die FB-Verweigerer:

„Eins ist mal klar: Du bist ein Polytrottel!“ Diesen schönen Satz hat der Vater eines Freundes seinem Sohn an den Kopf geschmissen, als der sich in einem – nicht unüblichen – Anfall von Eitelkeit als „polyglott“ bezeichnete. Ebenso polytrottelig und mit ebenso unschönem Hang zur Angeberei hier meine drei liebsten Buchläden:

Lüders Buchhandlung in Hamburg-Eimsbüttel, geführt unter anderem von meinem lieben Freund Thomas Bleitner. Top-Beratung, Top-Auswahl, Top-Lesungen, Top-Social-Media-Auftritt. Die Four Tops sozusagen und damit der Buchladenzwilling von Michelle.

Munro’s Books in Victoria, British Columbia, Kanada, 1963 eröffnet von der späteren Nobelpreisträgerin Alice Munro, die allerdings mit dem Laden schon seit einer Weile nicht mehr verbunden sein soll. In einem beeindruckenden ehemaligen Bankgebäude untergebracht (der Laden, nicht die Schriftstellerin!).

Und die Tsutaya-Filiale im schnieken Tokioter Boutiquen-Stadtteil Daikanyama.

Es gibt über 1400 Tsutaya-Filialen, viele funktional, manche stylish und die in Daikanyama wunderschön. In drei kubischen Bauten findet die literarisch, ästhetisch oder kulinarisch geneigte Kundschaft Beglückendes. Stundenlang kann man dort stöbern und die Zeit verbummeln. Unter anderem in einer Plattenabteilung, die sich mir auch nach zahlreichen Besuchen noch nicht wirklich erschlossen hat. Ich komme nicht umhin zu vermuten, dass die Abteilung vor allem dekorativen Zwecken dient und eher zufällig eine sehr ansprechende, wenn auch erratische Auswahl von Tonträgern und Literatur über Musik beherbergt.

Es gibt einiges an Vinyl, in einem kleinen zentralen Bereich auch sauber sortiert nach Genre und Neu- und Gebrauchtware in den üblichen Kisten. Daneben finden sich optisch besonders ansprechende Exemplare an verschiedenen Stellen der Abteilung regelrecht ausgestellt, vieles ist knapp unter der Decke auf Leisten an die Wand gelehnt. Ich komme mit meinen 1,91m (auf den letzten Zentimeter lege ich wert, Männer sind bei Zentimeterangaben bekanntlich sensibel) so gerade eben dran, für die japanische Kundschaft dürfte die Ware unerreicht bleiben. Denn Personal, das mit einer Leiter aushelfen könnte, ist in diesem Bereich des Ladens selten anzutreffen. Das überrascht, weil in jeder noch so kleinen Boutique in Tokio sich immer mindestens zwei Verkäuferinnen oder Verkäufer mehr die Beine in den Bauch stehen, als eigentlich nötig wäre.

Überhaupt mag man bezweifeln, dass Arbeitskräfte in Japan immer effizient eingesetzt werden. Ich erinnere mich an eine Joggingrunde durch ein Wohnviertel an einem frühen Sonntagmorgen. Ich kam in einer verlassenen, autofreien Gasse an eine Baustelle, die sauber eingezäunt und menschenleer war. Nichtsdestotrotz sorgten zwei warnbewestete Rentner, mit Leuchtstäben ausgreifend fuchtelnd und freundlich lächelnd, an Anfang und Ende der Baustelle dafür, dass ich diese unfallfrei passierte. Man munkelt, dass die zahlreichen Rentner in diesen Funktionen – es sind immer Männer – aus zwei Gründen im ganzen Land an Baustellen und Ein- und Ausfahrten den Verkehr regeln: Zum einen gehen Japaner typischerweise nolens volens recht früh, nämlich so um die 60 in Rente und müssen dann oft dazuverdienen, um bis ins landestypisch hohe Alter über die Runden zu kommen. Zum anderen soll so manche Frau ihren pensionierten Gatten regelmäßig aus dem Haus jagen, so wie sie ihn auch in all den Jahren davor am liebsten aus den Füßen hatte. Bezeichnenderweise haben mir verschiedene Japanerinnen erzählt, dass für viele ihrer Landsfrauen ein Traummann nach wie vor einer sei, der viel verdiene und wenig zu Hause sei. Bizarr.

Wie dem auch sei: Die Sorge, dass die Überalterung der japanischen Gesellschaft zu Arbeitskräftemangel führen könnte, scheint mir überzogen. Es dürfte jede Menge Verkehrseinweiser und Verkaufspersonal geben, die in anderen Funktionen ähnlich segensreich, aber effizienter wirken könnten.

Aber zurück zu Tsutaya: Es gibt einen Raum, der überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich japanischer Musik gewidmet ist. CDs, Sachbücher, Bildbände, Vinyl, alles hübsch präsentiert wie in Schöner Wohnen. Skurril ist allerdings, dass dort Vinyl in vereinzelten schmalen, seitwärts offenen Kisten in weitgehend unsystematischen Zusammenstellungen präsentiert wird. Man sieht nur die schmale Seite der Platten, kann im funzeligen Licht die Beschriftung nicht entziffern und muss den gesamten Stapel herausziehen, um das Angebot einigermaßen sichten zu können. Hier gilt ganz klar: Function follows form. Das gilt übrigens noch mehr bei Bonjour Records, einem kleinen Laden gleich um die Ecke von Tsutaya. Dort werden in gleichem Maße zeitgeistige Klamotten, Bücher, Zeitschriften, Bohnengetränke und Platten angeboten, die eher nach ästhetischen Kriterien ausgesucht und auch sortiert zu sein scheinen. Hier wird eher der lifestylige Hipster-Vinylist fündig als der passionierte Musikologe. Und doch konnte ich in den Grabbelkisten, die selbstredend gar nicht nach Grabbelkiste aussehen, schon ein, zwei Trouvaillen ausmachen.

Und auch bei Tsutaya habe ich schon so manchen Kauf getätigt, wenn auch bevorzugt Bücher, unter anderem dieses Buch über Obscure Sounds, das mir der oben gepriesene Thomas empfohlen hatte. Und das obwohl keiner von uns der japanischen Sprache hinreichend mächtig ist, um seinen Inhalt zu durchdringen. Oder diesen Katalog zu maßgeblichen City-Pop-Alben. Da Japaner „si“ und „ci“ stets wie Ski (also „schi“) aussprechen, wird das Genre hier faktisch als Shitty Pop bezeichnet. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Dem City Pop, der seine Hochzeit in den späten 70er und den 80er Jahren erlebte, bin ich hoffnungslos verfallen. Im schlimmsten Fall klingt Musik des Genres wie ein Love-Boat-Soundtrack. In den weitaus zahlreicheren Fällen ist die Musik ein beglückendes Amalgam aus heiterem, mitunter funkigem Feel-good-Pop, simplen und eingängigen Texten mit japanischen und englischsprachigen Bestandteilen, schmissigen Bläsersätzen und einem Optimismus, wie er die japanische Gesellschaft in den Boomzeiten der sogenannten Showa-Ära prägte. Wer wenig Zeit, aber den Wunsch hat, in das Genre einmal hinein zu lauschen, möge sich den Klassikern „Plastic Love“ von Mariya Takeuchi, „Stay with me“ von der viel zu früh verstorbenen Miki Matsubara und „Cat‘s Eye“ von Anri hingeben. Wer darüber nicht ekstatisch wird, lasse bitte sicherheitshalber seine Vitalfunktionen überprüfen.

Das Angebot an City Pop, auch auf Vinyl, ist hier paradiesisch groß, in Deutschland allerdings überschaubar. Bei Michelle bekommt ihr jedenfalls die tollen Pacific-Breeze-Sampler aus dem Hause Light in the Attic. Die sind allemal eine gute Einsteigerdroge.

 

zuletzt geändert von peterjoshua

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