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plattensammler
peterjoshua
Hier ist mein nächster Bericht, diesmal zu Tower Records: https://www.facebook.com/100370546675435/posts/3864872723558513/
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Halleluja! Hosianna! Frohlocket! Tower Records ist gar nicht pleite. Nicht allzu lange, nachdem ich 2005 New York nach nur einem halben Jahr Montage verlassen musste, machte Tower Records (erneut) die Gabel, also: bankrott. Kurz darauf nahm man für immer den Tonabnehmer vom Vinyl, den Laser vom Silberling: alle Geschäfte schlossen. Ich hatte zwar in den sechs Monaten so manchen Dollar in nächtlichen Kaufräuschen an der Filiale an der Upper West Side gelassen. Aber die Behauptung meiner Frau, der durch meinen Wegzug bedingte Umsatzrückgang hätte Tower Records das Genick gebrochen, weise ich zurück.
Meine Freude war also riesig, als ich vor zweieinhalb Jahren unversehens vor einem ganzen, achtstöckigen Gebäude in Shibuya voll mit Tower Records stand. (Shibuya ist der Stadtteil mit der Wuselkreuzung, die immer gezeigt wird, wenn irgendwo im Fernsehen über Tokio berichtet wird, wenn nicht Kirschblüte ist. Sehr einfallsreich.) Tower Records Japan hatte sich im Jahr 2002, wie ich recherchierte, vom amerikanischen Mutterschiff gelöst. Japanerinnen und Japaner kaufen nach wie vor wie besessen analog, also im Laden, wenn auch im Tonträgersegment vor allem die dann doch eher digitale CD. Die wird bei Tower Records Shibuya auf etwa zehnmal so viel Fläche angeboten wie Vinyl. Ein Stockwerk nur J-Pop, ein Stockwerk nur K-Pop, ein Stockwerk Klassik und Jazz, ein Stockwerk Rock, Pop, R&B usw., ein Stockwerk nur Soundtracks usw. Paradiesisch.
Als ich Anfang letzten Jahres nach Tokio zog, entdeckte ich die Tower-Records-Filiale in Shinjuku, die dort liquiditätsgefährdend direkt am Bahnhof liegt. Das ist übrigens der Bahnhof, an dem täglich 3 Mio. Menschen ein-, aus- oder umsteigen, das freilich, ohne sich auch nur einmal anzurempeln oder auf den Fuß zu treten. In der Filiale gibt es auf vier Stockwerken jede Menge CDs – und im obersten Stock Vinyl in rauen Mengen. Fast jeden Freitagabend schaue ich vorbei, so, wie ich auch in Hamburg freitags immer bei Michelle reingeschaut habe.
Etwa ein Viertel des Angebots ist Neuware, der Rest Second Hand. Die Sortierung ist dem Plattenkäufer allerdings ein Achttausender. Wenn auch nicht wegen des unwegsamen japanischen „Alphabets“ – das wird nur bei japanischer Musik verwendet –, sondern weil sich nicht so recht erschließen will, nach welchem System überhaupt ausgestellt wird. Nun sind wir ja von Michelle verwöhnt. Wer stürzt sich nach Betreten unseres Tempels nicht sofort auf das breite Regal mit den sauber sortierten Neuerscheinungen. Bei Tower Records gibt es davon nur anderthalb Boxen. Was zur Aufnahme in diesen erlesenen, nun ja: Kreis berechtigt, ist unklar. Weitere Neuerscheinungen verbergen sich in separaten Fächern für einzelne Independent-Plattenfirmen, andere stehen eher unmotiviert und vereinzelt auf verstreuten Plastikständern oder in einer Display-Rille oberhalb der regulären Fächer.
Das Ganze scheint kein wirkliches System zu haben. Oder eben doch: Auf der Suche nach bestimmten Exemplaren muss man mindestens fünf Stationen anlaufen und macht so manchen umsatzfördernden Beifang. Nachgerade paradiesisch ist das Stöbern in der gebrauchten Ware, die ähnlich skurril sortiert ist: nach Genres, die mir zum Teil völlig unbekannt waren; Zeitpunkt des Wareneingangs; nach Preislage und bei den bedeutendsten Acts nach Provenienz der Pressung. Bei den Beatles oder Stones gibt es also Japan-, UK- und USA-Fächer. Die Japanpressungen sind komischerweise – oder eben auch nicht, wir sind ja in Japan – in der Regel die günstigeren.
Das Sortierungswirrwarr ist einem natürlich schnuppe, denn man sucht ja nicht gezielt, sondern schnöft, wie wir Mentalitäts-Düsseldorfer sagen. Das täte man gerne stundenlang, wenn nicht japanische Geschäfte beheizt wären wie finnische Saunen. Japanerinnen und Japaner sind tendenziell sehr schlank, um nicht zu sagen; klapperdürr und demgemäß anders isoliert als wir Mitteleuropäer. Da hat man es im Laden gerne muckelig. Ich habe mir inzwischen angewöhnt, auch bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt nur in Pullover oder Sommerjacke nach Shinjuku zu fahren.
Ich finde im (tatsächlichen) Schweiße meines Angesichts immer zahlreiches gebrauchtes wie ungebrauchtes Vinyl nach meinem Geschmack, ein echtes Michelle-Gefühl. Allerdings sind in Zeiten von Discogs echte Schnäppchen auch hier nicht mehr möglich, der Markt ist zu transparent. Nur Platten japanischer Bands und eben auch Japanpressungen sind hier mangels Zoll weitaus günstiger als in Europa – wenn sie denn dort überhaupt zu bekommen sind.
So laufe ich also jeden Freitag mit einem Arm voll Frisch- und Nicht-so-frisch-gepresstem zur Kasse, wo mich in aller Regel ein mir schon recht vertrauter junger Herr in Empfang nimmt und unser wöchentliches Tänzchen beginnt. Zunächst werde ich gefragt, ob ich die Gebrauchten testen will. Will ich nicht, denn das Vinyl ist immer in einwandfreiem Zustand. Lediglich die Hüllen sind mal etwas mitgenommen, riechen selten auch mal nach feuchtem Keller oder Raucherhaushalt, nie aber nach altem Mann unterm Arm, dazu sind die Japaner einfach zu gepflegt. Sodann werde ich gestenreich befragt, ob ich im Besitz einer punktesammelnden Tower Records App oder Kundenkarte bin. Bin ich, letztere liegt bereits in der kleinen Schale, über die auch außerhalb pandemischer Zeiten jede Transaktion abgewickelt wird. Auf dass man sich auf keinen Fall berühre. Dafür gibt es schließlich die Love Hotels, deren Besuch hier durchaus nicht verpönt ist, sondern zum Ehealltag gehört wie in Deutschland der sonntägliche Tatort.
Der junge Kollege beginnt mit der ersten Sortierung der Ware. Neuware und Gebrauchte werden in zwei Stapel getrennt. Aus der Plastikumhüllung der Neuware werden CD-große Plastikplatten entfernt, die wohl dem Diebstahlschutz dienen. Allein: wozu? Es gibt kein weniger kriminelles Land als Japan. Hier reservieren sich die Leute beim Starbucks die Sitzplätze mit ihren Handys oder Portemonnaies. Kein Witz. Stichwort Plastikhülle: Jede Platte, selbst die verschweißte Neuerscheinung steckt nochmals in einer Plastikhülle mit Klebestreifen. Ich muss dringend einen Weg finden, wie ich das Zeug zur Wiederverwertung im Laden zurücklassen kann (reduce, reuse, recycle!). Dafür fehlt mir aber noch das Vokabular.
Wie ich überhaupt herzlich wenig von dem, was mir von dem jungen Herrn zugerufen wird, tatsächlich verstehe. Denn japanische Verkäuferinnen und Verkäufer reden während des Verkaufsvorgangs unablässig, ganz gleich, ob das Gegenüber sie versteht, überhaupt zuhört oder zwischenzeitlich eingeschlafen oder, was wahrscheinlicher ist, einem Hitzeschlag erlegen ist.
Nun ja, nach aufwändigem Entfernen des Diebstahlschutzes werden in ähnlicher Weise aus den Gebrauchten die bunten Preisschilder entfernt. Das hat den Nachteil, dass es im Nachhinein schwierig ist, den einzelnen Platten Preise zuzuordnen. Ob man also eine der zahlreichen gut erhaltenen Stücke aus dem Segment von 400 bis 1000 Yen (3,20 bis 8 Euro) vor sich hat oder eine Kostbarkeit im Wert von, sagen wir: 20 Euro (es geht selbstredend bis in die Hunderte), lässt sich später nur schwer rekonstruieren. Sei’s drum.
Nun werden die Preise eingelesen. Das ist eine Show für sich, weil dabei jeder Preis bis auf die letzte Stelle laut vorgelesen wird. Das ist für mich eine schöne Sprachübung und ein schöner Ausdruck der Selbstkritikfähigkeit von Tower Records. Denn dabei fallen dem jungen Herrn mit schöner Regelmäßigkeit Auszeichnungsfehler im Pfennigbereich auf, die mir verborgen geblieben wären und natürlich unverzüglich korrigiert werden.
Es kommt nun zum Höhepunkt des Bezahlvorgangs: Dem mindestens zwei-, oft dreifachen Durchzählen der Platten, die gleich eingetütet werden sollen, und dem Abgleich mit der Zahl der in der Registrierkasse erfassten Exemplare. So viel Zeit muss sein, und mein Hemd ist ohnehin bereits durchgeschwitzt. Der junge Herr stellt fest, dass sich auf meinem Kundenkonto einige Punkte angesammelt haben, und fragt mich irgendetwas. Ich nehme an, er will wissen, ob ich Punkte zur Diskontierung verwenden will. Will ich. Manchmal werden dann tatsächlich 1000 Yen (etwa 8 Euro) oder mehr abgezogen. Manchmal ernte ich nur einen verständnislosen Blick. Die Frage war wohl doch eine andere.
Nun darf ich so oder so bezahlen. Das geht wie bei uns mit Kartenlesegerät und PIN, komischerweise noch nicht kontaktlos wie sonst so vieles in Japan, wenn man mal von den Love Hotels und Katzen- und Schweinestreichel-Cafés absieht. Ein erster Satz Kassenzettel wird vertackert und mir auf einem Klemmbrett entgegengehalten. Denn nun wird mit Kugelschreiber an mindestens drei Stellen markiert, wieviel ich gezahlt, wie viele Punkte eingesetzt und wie viele Punkte noch auf meinem Konto verbleiben. Das ist schön, aber nicht lebenswichtig zu wissen. Und auch nicht zur dauerhaften Kenntnisnahme bestimmt, denn die so markierten Bons werden der Buchhaltung des Ladens zugeführt. Ich selbst bekomme meine eigenen, sauberen Zettel. Die werden nur nach inständigem Flehen mit in die Tüte gepackt, in der Regel aber mittels der vertrauten Schale feierlich überreicht.
Nun erscheint meistens ein weiterer Verkäufer, um beim Verstauen der Ware in zwei ineinander geschobene Papiertüten zu helfen. Das ist mir Anlass, das Personal kurz vorzustellen. Im Wesentlichen besteht es aus zwei recht ähnlichen jungen und zwei einander ebenso ähnlichen Herren meines Alters. Die jüngeren sind adrett, wie meine Oma sagen würde, gutaussehend, schlank, zurückhaltend, aufmerksam (man bringt mir mitunter unaufgefordert während des Stöberns einen altersgerechten Warenkorb) und natürlich sehr höflich. Das sind die älteren auch. Sie sind aber ein wenig zauseliger, mit längeren Haaren, Ziegen- oder ähnlichen Bärten und einem insgesamt etwas bohèmehafteren Äußeren. So eine Mischung aus Frank Zappa und spätem Wolfram Wuttke selig. Sie machen sich vor allem dadurch verdient, dass sie den Laden durchgehend ansprechend beschallen. Ich habe ihnen schon so manches frisch vom Plattenteller weggekauft. Interessanterweise legen sie dabei gerne Second-Hand-Platten auf und zwar zuverlässig aus dem Niedrigpreissegment. Ob das umsatzfördernd ist? Ich fühle mich jedenfalls ähnlich angesprochen, wenn nicht verführt wie von der akustischen Kulisse bei Michelle.
Zu guter Letzt tritt mein Freund, der Verkäufer, mitsamt Tüte hinter dem Kassenbereich hervor, überreicht mir die Kostbarkeiten und verabschiedet mich unter tiefen Verbeugungen in den Feierabend. Der ganze Bezahlvorgang hat gut und gerne zehn Minuten gedauert. Und dennoch musste niemand hinter mit in einer Schlange warten. Denn sobald sich eine solche zu bilden droht, kommt aus dem Personalraum unaufgefordert Verstärkung. Übrigens: Sowohl beim Betreten des Verkaufsraums als auch beim Verlassen verbeugen sich die Mitarbeitenden in Richtung des Verkaufsraums, ganz egal, ob es jemand mitbekommt. Was für ein schönes Zeichen der Wertschätzung der Kundschaft, der Kolleginnen und Kollegen und der Arbeit selbst.
Ähnliches erwarten wir von Michelle nicht. Wir nutzen die Zeit, die wir durch den deutlich kürzeren Bezahlvorgang am Gertrudenkirchhof gewinnen, für einen Plausch mit Christof, André oder Anna — vor denen ich mich gerade in diesen Zeiten allerdings ehrfurchtsvoll verneige.
zuletzt geändert von peterjoshua--
rock 'n' roll..., deal with it!