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wahrWas ist denn an APP so toll? Gebt mir mal ein paar Argumente an die Hand, bitte.
Da haste mal was zum Lesen.
„A Passion Play“! Jetzt als „extended performance“ in Form einer Vier-Scheiben-Box erschienen – überarbeitet von Steven Wilson. Hören wir doch gleich mal rein!
„A Passion Play“ beginnt mit einem Herzschlagmotiv, dann stellt weit im Jenseits Andersons Sopransaxophon gleich das zweite Hauptmotiv des Stücks vor. Daraufhin mündet das Präludium in eine Gigue im 9/8-Takt, die gewissermaßen als eine Art Totentanz das Passionsspiel einläutet. Und Jethro Tull vermehren die Referenzen in die Musikgeschichte: Sie spielen einen rudimentären imitatorischen Kontrapunkt, wenn Synthesizer (linker Kanal) und Saxophon (rechter Kanal) Variationen und Umkehrungen des Hauptmotivs austauschen.
Der Herzschlag kehrt zurück und verlangsamt sich: Wir sind im Nachleben angekommen und begleiten in der Folge Ronnie Pilgrim auf seinem Weg durchs Jenseits. Die Solostimme Andersons, die aus dem Nichts zu kommen scheint, symbolisiert vielleicht die Seele Ronnies, die sich aus seinem Körper löst.
Schon das Präludium setzt „A Passion Play“ von anderen Werken der Band ab. Während Jethro Tull sonst oft Elemente aus dem Mittelalter und der Renaissance aufgreifen, beziehen sie sich hier auf den Barock: Polyphonie, imitativer Kontrapunkt, die Gigue, und bei den Urfassungen „Tiger Toon“ und „Law of the Bungle“ die Verwendung eines Cembalos lassen die Epoche unmissverständlich anklingen.
In der Folge ist „A Passion Play“ dann geprägt durch das Spiel mit der für Popularmusik typischen Wiederholung auf der einen Seite, und der für sie untypischen durchkomponierten Form, also einer kontinuierlichen Fortentwicklung der Musik ohne Brüche und Wiederholungen, auf der anderen. Überwogen beim Vorgänger „Thick as a Brick“ noch die geschlossenen Formen, die die populäre Musik weitgehend bestimmen (strophische Form, Vers/Refrain-Strukturen und so weiter), sind es bei „A Passion Play“ im Gegensatz dazu die durchkomponierte Passagen, die dominieren. Und während es in „Thick as a Brick“ auf Kosten einer geschlossenen Gesamtgestalt geht, dass die songhaften Passagen in sich geschlossener sind und somit jeweils für sich einen gewissen Grad an Selbständigkeit besitzen, ist „A Passion Play“ das gelungenere Großwerk, weil das Stück weniger in sich abgeschlossene Abschnitte aufweist. Damit zeigt es nicht nur, wie man einen gelungenen Longtrack komponiert (Retroprogbands: bitte mal ganz genau hinhören!), sondern darüber hinaus ganz beispielhaft, was für mein Dafürhalten den Progressive Rock in seinem innersten Kern ausmacht: Das Ersetzen von Erwartbarem durch das Überraschende.
In der populären Musik führt die allgegenwärtige Wiederholung auf der Hörerseite zu einer Abfolge von Erwartung und Erfüllung: Selbst bei einem mir unbekannten Popsong weiß ich im Vorhinein einige Dinge: Zum Beispiel, dass ich nach ca. 45 Sekunden den Refrain zu erwarten habe, dass ich die Strophe, die ich gerade höre, nach dem Refrain noch einmal zu hören bekomme, und dass auch der Refrain nach der nächsten Strophe noch einmal wiederholt wird. Das Hören von Popmusik ist also ein in die Zukunft hinein gerichtetes Hören, weil man im Voraus schon weiß, was auf einen zukommt.
Die Komplexität des Prog dagegen, seine Abkehr von den repetitiven Schemata der Popmusik in Struktur, Motivik, Rhythmik und Melodik, macht es unmöglich, die Wendungen der Musik vorauszuahnen. Was dazu führt, dass der Hörer nicht wie bei einem schematisch aufgebauten Popsong antizipieren kann, was als nächstes geschieht. Stattdessen ist er darauf angewiesen, analytisch zu hören: Verstehen nicht durch Vorausahnen, sondern sozusagen durch Nacharbeiten. An die Stelle des Vorausahnens des immer Gleichen tritt die nachträgliche Analyse des eben Gehörten.
Echte, wortwörtliche Wiederholungen gibt es in „A Passion Play“ überhaupt nur an vier Stellen. Und selbst da sorgen kleine Variationen für Fortbewegung: Viele Strophen sind irregulär, werden gekürzt oder anders fortgeführt. Erst gegen Ende des Werks werden die Anteile an Wiederholungen größer. Stattdessen sind es motivische Formen, die das Stück zusammenhalten: Das Herzschlagmotiv, das an sieben verschiedenen Stellen in immer neuen Gestalten erscheint, oft als Shuffle, bindet das Stück im Ganzen zusammen. Ein zweites Motiv („There was a rush along the Fulham Road“) markiert den Moment des Todes von Ronnie Pilgrim und scheint sogar an zehn verschiedenen Stellen im Stück auf. Und die Melodie „All along the icy wastes“ erscheint in immer neuen Permutationen, gesungen, gesprochen („All of this and some of that“) oder instrumental (z. B. bei 17:46).
Für mich ist das der Kern der ganzen Angelegenheit „Progressive Rock“: Nicht die Longtracks, nicht die exotischen Instrumente, nicht die rhythmische oder formale Komplexität, sondern der Zweck, dem all das dient: Das Ersetzen des Erwartbaren durch das Überraschende. Der Sinn des Ganzen? Die Auflösung von wohlfühligen Sicherheiten, stattdessen eine fortwährende Kette von Überraschungen, ein stetiges, sich entwickelndes Voranschreiten, und ein Eindruck des (so) noch nie Gehörten. Daher rühren wohl auch die vielzitierten Effekte: Dass gelungener Prog den Hörer auf eine Reise mitnimmt, oder dass es im Prog auch nach vielmaligem Hören noch etwas zu entdecken gibt. „A Passion Play“ ist für Beides ein ganz hervorragendes Beispiel. Dazu dienen (es ist ein Dienen!) komplexe Metren (viele viele in „A Passion Play“, Polyrhythmik eingeschlossen), überraschende Tonartenwechsel („the old familiar choruses come crowding in a different key“, 5:15) Referenzen in alle möglichen Richtungen der Musik und der Musikgeschichte – in diesem Fall sind es die kammermusikartigen Instrumentalpassagen, ist es der Barock.
Wohl daher rührt der Eindruck, dass der Progressive Rock besonders anspruchsvoll sei. Der schlichte Grund: Er ist es. Wenn er gut ist. Ein Stück wie „A Passion Play“ ist ein Paradebeispiel dafür.
Die Instrumentierung ist es, die durch Steven Wilsons Überarbeitung zu eigentlichen Star des Albums wird. Sie ist es auch, die den negativen Einschätzungen mancher Bandmitglieder, allen voran Ian Anderson selbst, zugrunde liegt: Was die neuen Abmischungen zutage fördern, ist ein äußerst feines Gespinst ebenso subtiler wie superber Melodien, die sich das gesamte Stück hindurch gegenseitig umweben. Polyphonie: Erst im Zusammenklang der vielen verschiedenen Instrumentalstimmen entsteht die Gesamtgestalt des Werks. Zudem wechselt alle paar Takte die Instrumentierung: insgesamt sind mindestens 15 verschiedene Instrumente zu hören. Möglich gemacht hat das das Studio – auf der Bühne war all das nicht umzusetzen. Und weil die Musiker immer den performativen Aspekt ihrer Musik vor Augen haben, haben müssen, haben sie bis heute ihren Frieden mit dieser Musik nicht gemacht. Ganz anders wir, die wir, zumindest wenn wir uns an die offiziellen Veröffentlichungen halten, nur die Studiofassung kennen. Wilsons Arbeit hebt das Raffinement der Arrangements nun nur umso deutlicher hervor. Man mache bloß einmal den Versuch, in den ersten sechs, acht Minuten allein auf das zu hören, was Martin Barre da tut: Zum einen ist das erst jetzt richtig möglich, zum anderen offenbart sich da plötzlich eine ganz eigene Welt feiner, wundervoller Melodien. Wer hat gesagt, Prog mache mehr Arbeit als schnöde Popmusik? Hier kann man das am lebenden Objekt nachvollziehen: Das muss man erst einmal komponieren!
Und dann „The Story of the Hare who lost his spectacles“! Noch mehr Referenzen: Sergei Prokofjews „Peter und der Wolf“ trifft auf Monty Python trifft auf eine ironische Spiegelung der spirituellen Reise Ronnie Pilgrims mit der Suche der Tiere, „insight and foresight“ – in den Brillengläsern eines Hasen. A play within a play within a mirror…
Überhaupt die Texte! Klar, „A Passion Play“ hat ein düsteres Thema, aber die Stärken Andersons als Texter sind hier nicht weniger präsent als auf seinen lyrisch besten Stücken: Wortspiele wie „Newt knew too much“ jagen beißende Kommentare auf Religion („Man of passion rise again, we won’t cross you out“) und Gesellschaft („And your little sister’s immaculate virginity wings away on the bony shoulders of a young horse named George who stole surreptitiously into her geography revision. (The examining body examined her body.) „)
Die neue Version wartet neben vernachlässigbaren Veränderungen am Original mit den vollständigen „Château D’isaster“-Tapes auf, gegenüber ihrer früheren Veröffentlichung auf „Nightcap“ um 10 Minuten ergänzt, von späteren Flötenoverdubs befreit, in die korrekte Reihenfolge gebracht und korrekt betitelt. Beide Alben sind von Steven Wilson vorbildlich entstaubt und neu abgemischt worden. Im Vergleich zu Wilsons Arbeit an „Thick as a Brick“ sind die Unterschiede zur bisher verfügbaren Version von „A Passion Play“ viel größer: Die CD von 2003, die ich besitze, klingt im Nachhinein erschreckend dumpf und verwaschen. Hat ein Klavier je so schneidend klar geklungen wie das von John Evan hier?
„A Passion Play“ ist nicht nur mit Abstand das beste Album Jethro Tulls, es ist musikalisch wie textlich eines der vielschichtigsten Alben, die der (Progressive) Rock je hervorgebracht hat. Die Überarbeitung Steven Wilsons ist ebenso superb wie die Ausstattung der neuen Box. Dem Fan bleibt nichts zu wünschen übrig.
Quelle: BBS
zuletzt geändert von wolfgang--
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