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Mich hat schon immer interessiert, was unter den Hochglanzbildern der Werbung schlummert, die Käpt’n Iglo und seine Bubenbande zusammen auf den Weiten des Meeres portraitieren. Etwas Sexuelles drängt sich sofort auf: Die Uniformen, das mitunter Militärische im Maritimen, gemahnen an Strafmissionen, gar an Galeeren. Traut man diesem bärtigen Seebären nicht sofort eine pervertierte Knabenliebe zu, auf einem Schulschiff des Sadomasochismus, der Gorch Fuck des Fischfangs?
Dieses Gefühl finde ich Jahrzehnte später in Bertrand Mandicos Langfilmdebüt Les garçons sauvages (Originaltitel) wieder, eine einfache und vulgäre Assoziation, die dem instabilen und fluiden Aggregatzustand des Films in ihrer Simplizität nicht entspricht, doch der mitunter starke Rückbezug auf unbewusst Verstörendes, das hier wie selbstverständlich in der Auslage präsentiert wird, funkelte bereits damals unter der Last der sinkenden Sonne am Horizont.
Schmuck und Juweliges glänzen wie bei Josef von Sternberg oder Max Ophüls, weite Teile des Films ruhen auf den Grundpfeilern der Bilderwelten Kenneth Angers: Vom homoerotischen Frühwerk Fireworks, dessen monochromer Matrosenraufhändel explizit zitiert wird, bis zum späteren, okkulter und mystischer wirkenden Schaffen in Farbe, findet man viele Bezugspunkte. Optisch also schon ein besonderer Leckerbissen, der die Vorzüge der Vergangenheit genüsslich auskostet, und dabei soweit geht, auf die moderne Post-Produktion zu verzichten, um alles direkt am Set, unter Zuhilfenahme von In-Camera-Effekten, in Szene zu setzen. Ganz anders der Ton, welcher Schicht für Schicht im Studio nachsynchronisiert und von Grund auf neu zusammengestellt wurde.
Die Wirkung besticht: The Wild Boys erweist sich als schnell wie das Wetter auf See umschlagen könnender Fiebertraum des abseitigen Kinos, der Vorstellung von der Überlegenheit des Inkohärenten folgend, der Mandico anhängt: Farbige Szenen wechseln mit Einstellungen in schwarz/weiß, man schwenkt mitten in der Konversation von Französisch auf Englisch um, und auch die Geschlechtsidentität der Figuren ist im Wandel begriffen. Nicht nur genderfluid, das ganze Unterfangen fließt und strömt wie ein mondsüchtiges Rinnsal, dem Rhythmus der Gezeiten spielerisch folgend, in verschiedenste Richtungen.
Eine davon, die dunkelfeuchte Träumerei aus der erdigen Würze des Schoßes, belässt es nicht bei der Beschränkung von Erotik auf den menschlichen Körper, und bezieht die gesamte Umgebung des Films in ihr Liebesspiel mit ein, texturenreich und von variabler Viskosität, wie ein von der Leinwand herab pflückbarer, gereifter Pfirsich. Über Bild und Ton herausgehende Eindrücke sammeln sich im Zuschauerraum, Gerüche stehen im Saal, die schwüle Feuchte tränkt die Kinobänke. Ein Schamhaar auf der Zunge, Sperma als Nektar, sich um den Torso rankende Schenkel: Die Abenteuer der Insel machen die schwierige Überfahrt vergessen.
Eine andere verfolgt die Frauwerdung der bösen Buben, den naiven Gedanken zulassend, die Feminisierung der wilden Jungs werde sie zu sanfteren Menschen machen, zu echten Partizipanten der Zivilisation, anstelle von rücksichtslosen Barbaren. Diese Strömung bleibt angenehm ambivalent, auch durch Mandicos Einfall, alle männlichen Hauptfiguren (bis auf den Kapitän) von jungen Frauen darstellen zu lassen. Die dadurch entstehende Spannung entlädt sich schließlich in einem dionysischen Fest der Jungskörper, als homosexueller Ausbruch zu den Klängen der Nina Hagen Band.
Die restliche Musik des Films, zielsicher und zupackend, oszilliert zwischen Krautrock-Einschüben (u.a. der einflussreichen Band Cluster), Impressionen der Berliner Schule, der melancholisch bis experimentellen Atmosphäre von Ennio Morricone und vereinzelten Horror Synth-Anwandlungen, die eher als verhuschte Skizze in der Luft schweben, ohne jemals vollständig Fleisch zu werden, komponiert von Pierre Desprats, Hekla Magnúsdottír und der Band Scorpion Violent.
Der die Sinne überwältigende Clash von Bruchstücken der Welten Jules Vernes und William S. Burroughs, welcher die nur sehr, sehr lose (wenn überhaupt) adaptierte Buchvorlage The Wild Boys: A Book of the Dead schrieb, ergibt eine mit sexuellen Fetischen durchsetzte Abenteuergeschichte, die mit dem Rückgriff auf frühere Ästhetiken des absonderlichen und exotischen Kinos glänzt, um damit hochaktuelle Themen zu verhandeln, die sich gerade erst ihren Weg in den Mainstream bahnen. Und das nicht auf die Art des betonklotzigen Thesenfilms, sondern in der organischen Lebendigkeit der Verschmelzungen und Verwandlungen, mehrfach prismengebrochen kaleidoskopisch und so märchenhaft wie magisch. Der genuine Zauber von Film und Kino in voller Pracht und mit so gut wie all seinen Möglichkeiten.
Wer sich selbst ein Bild machen möchte, kann dies in der Nacht vom 15.04 auf den 16.04. um 00:10 Uhr bei arte tun. In der arte Mediathek findet man den Film vom 15.04.21 bis zum 13.07.21.
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Come with uncle and hear all proper! Hear angel trumpets and devil trombones. You are invited.