Antwort auf: Ich höre gerade … Blues!

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zoji

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Beiträge: 7,283

 @friedrich

Ich bin nur aus Neugier hier. Über Strange Fruit kann man wohl ganze Doktorarbeiten schreiben. Ich bin aber weder Historiker noch Kulturwissenschaftler und weiß nur wenig darüber. Text und Musik stammen nicht von Billie Holiday sondern von Lewis Allen. Die Wirkung dieses Liedes wird wohl auch durch den Aufbau und die Verwendung von Bildern und Metaphern erreicht. Dadurch bekommt es eine besondere Dramatik und Tiefe. Das setzt sich erst im Kopfe des Hörers zusammen. Ob das jetzt eine künstlerische Entscheidung war (wovon ich ausgehe, denn der Text ist Literatur und seine Wirkung ist gerade auch deswegen erschütternd) oder nicht, wollte Columbia Strange Fruit nicht veröffentlichen, weil man negative Reaktionen befürchtete. Das Thema Lynchmord war damals wohl noch zu heiß. Wie diese Reaktionen ausgesehen hätten? Geschäftspartner und Kunden springen ab? Scheiben werden eingeschmissen? Plattenläden in Brand gesteckt? Personal aufgeknüpft? Holiday spielte Strange Fruit dann 1939 für das kleine Label Commodore ein. Ich denke, es kommen verschiedene Faktoren zusammen, die dieses Lied zu einem Fanal machten und später fast zur Folklore werden ließen. Eigentlich unerfreulich, dass Otis Taylor und andere immer noch und immer wieder Anlass haben, den Finger in die Wunde zu legen. Und paradox, dass diese üble Situation immer wieder zu toller Musik führt. Aber ich bin bloß ein mittelalter weißer deutscher Mann, der das nur aus der Distanz beobachten kann. Auf den Fotos von Otis Taylor, die ich kenne, hätte ich unter seinem Hut und hinter seinem Bart auch nicht unbedingt einen Afro-Amerikaner vermutet. Aber das ist wohl auch eher eine sozio-kulturelle als eine genetische Kategorie. Ich vermute daher mal, dass Deine Spekulation zutreffen könnte.

Und ich kann auch aus unwissenschaftlichen Erläuterungen lernen, danke Dir  :bye: .

Doktorarbeiten habe ich jetzt nicht gelesen, laut wiki hat es aber auch so gereicht, Holiday aus einer Stadt in Alabama zu jagen. Was ich letztens nicht mehr so parat hatte: Ja, Strange Fruit wirkt mit Bildern, aber es ist ja gar nicht verklausuliert, ich meine, nicht bis zur Rätselhaftig- und Mehrdeutigkeit metaphorisiert, lässt keinen Interpretationsspielraum, ist sogar sehr deutlich adressiert (The galant south). Und drastisch ging es auch zu (for the crows to pluck … for the sun to rot). Insofern finde ich dann die formale Differenz zu Taylor doch geringer als letztens zunächst angenommen.

Bezüglich meiner Spekulation zu Taylor hatte ich neulich übrigens kurz nach dem Senden meines Beitrags ein ungutes Gefühl. Ein bisschen klingt das auch nach einer Mär, die White Supremacists in die Welt gesetzt haben könnten, um den eigenen Rassismus zu legitimieren. Ärgere mich, dass ich die Quelle nicht erinnere, zumindest auf die Schnelle habe ich jetzt auch keine weiteren Hinweise darauf gefunden. Mir fiel noch Big Bill Broonzys Black, Brown & White ein, das ja deutlich macht, dass, wenn schon nicht flächendeckend, dann wenigstens regional, noch Unterschiede gemacht wurden. Ergibt ja auch einen perversen Sinn. Einer der schlauesten Tricks der Unterdrückung ist es ja, einem kleinen Teil der Unterdrückten Privilegien zu gewähren. Aber auch bei Broonzy findet sich kein Hinweis darauf, dass eine rassistische Abstufung von Teilen der afroamerikanischen Gesellschaft adaptiert wurde.

Wegen der Paradoxie: Ein Diktum, große Kunst entstünde nur aus Leid, erschiene mir als Nicht-Sachverständigen erst einmal zu klischeehaft. Aber in vielen Fällen scheint es dann eben doch förderlich. Was die beunruhigende Schlussfolgerung nahelegt, dass die Welt ihren Idealzustand erreicht, wenn es nur noch Flippers-Musik gibt. Brrrrr.

 

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Und lieg´ich dereinst auf der Bahre, dann denkt an meine Guitahre, und gebt sie mir mit in mein Grab (Der rührselige Cowboy, D. Duck)